Brian Lumleys Necroscope Buch 3: Blutmesse (German Edition)
klärten sich seine Gedanken. Verglichen mit der geistigen Trägheit, an die er sich in den letzten Wochen gewöhnt hatte, arbeitete sein Verstand jetzt sogar messerscharf. Und er stellte sich wieder all die Fragen, die er sich zuvor schon gestellt hatte, ohne genug Zeit zu haben, Antworten darauf zu finden. Zum Beispiel: Wo zum Teufel waren seine Freunde?
Er war jetzt seit einiger Zeit – zwei Wochen vielleicht? – aus Russland zurück. Und die einzigen Leute, die er bisher gesehen hatte – oder besser gesagt, die Einzigen, die ihn sehen konnten – waren ein Arzt, ein Nachrichtendienstler und eine Krankenschwester, die manchmal unartikuliert grunzte, aber nie ein Wort sagte. Er hatte doch Freunde im Secret Service. Die mussten wissen, dass er wieder da war. Warum waren sie nicht gekommen, um ihn zu besuchen? War er so schwer verletzt? Sah er so schrecklich aus?
»So schlecht fühle ich mich aber gar nicht«, murmelte Jazz vor sich hin.
Er bewegte seinen rechten Arm und ballte die Faust. Der Durchstich in seinem Handgelenk war verheilt, und neue Haut hatte sich über den Einstichen an der Vorder- und der Rückseite gebildet. Es war reines Glück gewesen, dass die Spitze des Eispickels zwischen den Knochen durchgeglitten war und keine Schlagader durchtrennt hatte. Die Hand war ein wenig steif und außer Übung, aber das war alles. Er hatte Schmerzen, doch die ließen sich ganz gut ertragen. Bei genauerem Nachdenken tat ihm eigentlich zurzeit gar nicht so viel weh. Aber natürlich konnte er sich nur sehr eingeschränkt bewegen, oder? Jazz beschloss, es besser nicht zu versuchen.
Was war mit seinen Augen? War es in seinem Zimmer hell oder dunkel? Der durch die Bandagen verursachte »Schnee« war dick und undurchlässig. Sie hatten gesagt, sie hätten ihm das Augenlicht gerettet. Was war damit? Hatten seine Augäpfel herausgehangen oder so etwas? »Das Augenlicht gerettet« konnte alles Mögliche bedeuten. Es hieß, dass er noch zu sehen vermochte – sagte aber nichts darüber aus, wie gut.
Zum ersten Mal seit er hier war, überfiel ihn jetzt richtige Panik. Vielleicht verschwiegen sie ihm etwas, bis er seinen Bericht komplett abgeliefert hatte, um ihn nicht zu erschrecken oder abzulenken: Wo Leben ist, ist auch Hoffnung, oder etwas in der Art. War das möglich? Was, wenn sie ihm nicht alles erzählt hatten?
Jazz bekam sich wieder unter Kontrolle und fauchte verächtlich. Hah! Ihm alles erzählt? Gott, sie hatten ihm gar nichts erzählt. Er war derjenige, der die ganze Zeit geredet hatte ...
Diese ungewohnte Kontrolle über seine Gedanken führte ihn in eine beängstigende neue Richtung, und von da an ging es steil abwärts: Je mehr er die Alternativen bedachte, desto schneller ging es bergab und desto entsetzlicher wurde es. Teile eines Puzzles, von dem er bisher nicht gewusst hatte, dass es überhaupt existierte, passten plötzlich zueinander. Und das Bild, das sich auftat, war das eines Clowns, einer Marionette, die seinen Namen trug: Michael Jazz Simmons – Volltrottel!
Er winkelte den rechten Ellbogen ab, hob die Hand an seinen bandagierten Kopf und begann, an den Verbänden zu zerren, die seine Augen bedeckten. Aber vorsichtig: Er brauchte nur einen Schlitz, nicht mehr. Einen schmalen Spalt zwischen den Bandagen. Er wollte etwas sehen, ohne dabei gesehen zu werden.
Nach kurzer Zeit meinte er, es geschafft zu haben. Es war schwer, sich da sicher zu sein.
Der Schnee war immer noch da, aber wenn er die Augen zusammenkniff, erschien das wenige Licht, das zu ihm durchdrang, beinahe natürlich. Es war so wie in seinen Kindertagen. Damals hatte er immer im Bett gelegen, die Augen zu Schlitzen verengt und den langsamen, regelmäßigen Atem eines Schlafenden vorgetäuscht. Wenn seine Mutter dann hereinkam und das Licht anknipste, stand sie vor seinem Bett und sah ihn an, und sie war sich nie ganz sicher, ob er jetzt wach war oder schlief. Mit den Bandagen über den Augen sollte diese Vorspiegelung noch viel leichter fallen.
Er streckte seinen Arm wieder aus, fand den Klingelknopf und drückte ihn. Jetzt wusste die Krankenschwester zwar, dass er wach war, aber das Prinzip war das gleiche: Wenn sie kam, würde er sie sehen können, und sie würde das nicht bemerken. Das hoffte er zumindest!
Nach kurzer Zeit ertönten leise gemächliche Schritte. Jazz drückte den Kopf in die Kissen zurück und wartete im Dunkel seines Krankenzimmers. Um ihn herum summte die Klimaanlage leise, und die Luft roch ein wenig nach
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