Brief in die Auberginenrepublik
sich seiner glücklichen, privilegierten Situation in Jordanien bewusst.
Jedes Mal, wenn ich nach Jordanien komme, fällt mir das erbärmliche Leben meiner Landsleute hier auf. Sie sind überall in Amman, manche schlafen auf den Bürgersteigen der Straßen in der Stadtmitte, am Hashmia-Platz, in den Ruinen, den Fabriken, auf Baustellen, wo die unfertigen Häuser stehen. Ihnen geht es nur ums Überleben. Es gibt Mädchen, die in Bordellen arbeiten und junge Männer, die bereit sind, Strichjungen zu werden. So viele von uns Irakern bevölkern das Land, dass die Jordanier uns satt haben. Und Baschier? Wenigstens ihm ist es gelungen, seine Frau und seinen Sohn aus Bagdad zu holen und sich in Amman eine kleine Wohnung zu mieten.
Augenblicklich stehe ich auf der Talal-Straße. In der einen Hand halte ich die Plastiktüte mit den zehn Briefen, in der anderen das Honorar für die Briefzustellung. Der Transport solcher Briefe, den ich seit fast zwei Jahren abwickle, bringt mir gutes Geld. Ein unverzichtbares Einkommen, denn ein Dollar ist mehr als tausend irakische Dinar wert. Die Briefe muss ich im Wagen gut verstecken, in irgendeinem Karton oder einer Kiste, und nach der Ankunft in Bagdad im Tahrir-Import-Export-Büro abgeben. Die Polizisten an der jordanischen Grenze Al-Karama und an der irakischen Grenze Tripil können nicht sämtliche Kartons aller Lastwagen öffnen und durchsuchen. Täten sie es, bräuchten sie einen ganzen Tag für einen einzigen Lastwagen. Bis jetzt kam ich immer gut durch. Also los und nicht länger nachdenken! Es sind schließlich nur Briefe.
Auf meinem Spaziergang genieße ich es, das Treiben in den Läden auf der Talal-Straße zu beobachten und den vielen Menschen zuzusehen, wie sie handeln und einkaufen, miteinander reden oder einfach in die Schaufenster schauen. Hier in der Stadtmitte reihen sich Klamottengeschäfte an Klamottengeschäfte, Imbisse an Imbisse, Läden an Läden, die mit allem gefüllt sind, was das Herz begehrt. Auch die Straßenverkäufer auf dem Bürgersteig bieten schöne Ware an. Drei alte Damen sitzen auf dem Gehweg, in schwarze traditionelle irakische Gewänder gekleidet und in schwarze Schleier gehüllt. Die erste verkauft Zigaretten, Sonnenblumenkerne und Kaugummis, die zweite Uhren und Armbänder und die letzte Plastiksandalen. Dieser Anblick im Zentrum von Amman macht mich unendlich traurig. Ich frage mich, wie ich mich fühlen würde, wenn eine dieser Frauen meine Mutter, Frau oder Schwester wäre? Das haben wir Iraker wirklich nicht verdient, auf diese erbärmliche Art zu leben! Ich verfluche dich, Saddam, für all deine Verbrechen! Und ich verfluche dich, Amerika, für all die Kriege und das ewige Handelsembargo, das uns zu Sklaven gemacht hat!
Ich gehe weiter in Richtung Hashmia-Platz und betrachte dort die vielen Cafés, Restaurants, die Straßenverkäufer und die schönen Häuser, die sich unregelmäßig den Berg hinaufziehen.
Plötzlich steht ein junger Polizist vor mir.
»Sind Sie Iraker?«
»Ja.«
»Ihren Ausweis bitte!«
Ich reiche ihm den Reisepass. Er blättert darin, dann fragt er: »Wie heißen Sie?«
»Mein Name ist Abu Samira – der Vater von Samira. Meinen ursprünglichen Vornamen Latif benutzt keiner, sondern man nennt mich Abu Samira, so wie es im Irak für Väter und Mütter üblich ist: nach dem Namen des ältesten Kindes. Und Samira ist meine älteste Tochter.«
Der Mann lächelt, gibt mir den Pass zurück und geht weiter. Ich habe in Amman selten eine Polizeikontrolle auf der Straße erlebt. Ob es ein Problem mit einem der vielen Ausländer hier gibt? Das geht mich nichts an.
Eine Stunde bleibt mir, bis ich mich auf den Weg machen muss. Mein Lastwagen parkt vor der Seifenfabrik am Rande Ammans. All die mit Seifen vollgestopften Schachteln lagern bereits im Laderaum, ich brauche den Wagen nur noch abzuholen und nach Bagdad zu bringen.
Bevor ich abfahre, suche ich ein Geschenk für mein Enkelkind Nori, den Sohn meiner Tochter Samira. Nori wünscht sich ein rotes Spielzeugauto. Er liebt ausschließlich rotes Zeug, will immer etwas Rotes. Ich habe ihm bereits ein rotes Kuschelbärchen, eine rote Kuschelkatze und eine rote Plastikpistole aus Jordanien mitgebracht. Den Grund für diese rote Vorliebe kenne ich nicht. Vielleicht bin ich wegen genau dieses Spleens in dieses Enkelkind vernarrt?
Rot war auch die Lieblingsfarbe meines einzigen Sohnes, der ebenfalls Nori hieß. Auch der große Nori mochte als Kind nur rotes Spielzeug, was ich
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