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Brief in die Auberginenrepublik

Brief in die Auberginenrepublik

Titel: Brief in die Auberginenrepublik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbas Khider
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bleibst und nicht in den Krieg ziehst, begehst du Fahnenflucht, das bedeutet in diesem Land Verrat, mein Sohn. Die Polizei wird dich festnehmen, und die Justiz verurteilt dich zu fünf Jahren Gefängnis. Willst du das wirklich auf dich nehmen? Und wer weiß, vielleicht taucht dieses Gesetz vom Anfang des Krieges wieder auf: die Todesstrafe. Willst du mir und deiner Familie das antun?«
    Nori fügte sich meinen Worten und ging wirklich wieder an die Front, und zwei Monate später, im Juni 1988, kam er als Leiche zurück. Eine iranische Rakete hatte das Spital getroffen, in dem er diente. Bei der Bergung fand man nur schwarz verkohlte Leichen, und man konnte meinen Sohn sofort an der zweigeteilten Erkennungsmarke identifizieren, die um seinen Hals hing.
    Für mich blieb es unbegreiflich, dass ich meinen einzigen Sohn so früh und für immer und ewig verloren hatte. Was mich noch verrückter und seelenwunder werden ließ, war die Tatsache des Kriegsendes am 8. August desselben Jahres, wenige Monate nach Noris Tod. Hinzu kam die staatliche Amnestie für alle desertierten Soldaten am selben Tag, dem 8. August 1988. Umgehend konnten sie, ohne bestraft zu werden, ihren früheren Tätigkeiten nachgehen. Seitdem glaube ich fest, dass ich meinen Sohn Nori in den Tod geschickt habe.
    Am Tag, als die Leiche meines Kindes bei uns ankam, wollte ich den ganzen Tag mit niemandem sprechen, weder mit meiner Familie noch mit Freunden oder Nachbarn. Ich verkroch mich auf das Dach meines Hauses und betrachtete stundenlang den Himmel. Ich glaubte zu sehen, dass mein Sohn den Himmel mit seinem Blut rot anmalte und sich verabschiedete. Meine Hand winkte die ganze Zeit, und ich hörte meine Stimme immer aufs Neue wie besessen rufen: »Auf Wiedersehen, mein Herz, mein Sohn, mein Traum.« Meine Frau, meine Töchter und alle im Viertel dachten, der Irrsinn hätte von mir Besitz ergriffen. Sie standen draußen vor der Tür, beobachteten mich und schluchzten aus Trauer und Mitleid mit mir. An diesem verdammten Tag blieb unklar, wen die Leute mehr beweinten, den tot heimgekehrten Sohn Nori oder den verzweifelten Vater.
    Aber nun ist er da, der kleine Nori. Der einzige Junge in der Familie, mein behüteter Augenstern. Nicht einmal fünf Jahre weilt er in dieser Welt, und immer wenn ich unterwegs bin, beeile ich mich, nach Hause zurückzukehren und seine kleinen Händchen zu drücken, sein Lächeln einzufangen.
    An einer Straßenecke finde ich endlich einen Spielzeugladen, der obendrein Rabatt auf alle Waren anbietet. Ein junger Angestellter ruft vor der Tür des Geschäfts mit auffälligem ägyptischen Akzent und lauter Stimme: »Alles fünfzig Prozent billiger! Kommt und schaut dieses Wunder! Morgen ist es zu spät, nur heute alles fünfzig Prozent billiger!« Ich betrete den Laden und schaue mich um, entdecke das größte und teuerste Spielzeugauto in knallroter Farbe. Ohne wie üblich zu handeln, erwerbe ich den Fund, umfasse freudig das Geschenk, schreite hinaus wie ein wohlhabender Herr und nehme das nächste Taxi.
    »Richtung Flughafen, zur Kosmetikfabrik Al-Schami, in der Nähe des großen Hotels Al-Hayat. Kennst du sie?«
    Der junge Taxifahrer antwortet: »Na klar, steig ein!«
    »Wie viel kostet es?«
    »Taxizähler.«
    Beschwingt steige ich ein, empfinde Wohlbehagen auf der ledernen Rückbank, das rote Spielzeug fest im Arm, und stelle mir die Freude in Noris Gesicht vor, wenn er es erblickt. Ich versinke in eine innere Ruhe und Zufriedenheit und möchte die Augen schließen, doch der Fahrer unterbricht die Stille und fragt: »Bist du Iraker? Ja, Iraker, oder?«
    »Woran erkennst du das?«
    »Dein Turban! Jordanier tragen so etwas nicht.«
    »Pfiffiger Bursche. Kommst du aus Amman?«
    »Ja, ich lebe hier, bin aber kein gebürtiger Hauptstädter, stamme aus dem Süden, aus der Stadt Karak. Wie mein Vater und Großvater und schon mein Ururururgroßvater. Ich bin nur hier wegen der Arbeit. Und wie geht es dir?«
    »Ab und zu komme ich hierher, kehre aber immer wieder nach Bagdad zurück. Ich denke, euch geht es hier in Amman besser als uns drüben im Irak.«
    »Onkel! Darf ich dich Onkel nennen?«
    »Ja klar!«, erlaube ich es dem gesprächigen Jungen.
    »Entschuldige bitte im Voraus meine Wortwahl! Aber, wenn man auf dem Klo hockt, dann hockt man auf dem Klo. Ziemlich egal, ob man scheißt oder pinkelt. Hier bei uns hockt die Regierung auf unserem Land wie auf einem Klo, genauso wie dort bei euch. Bei euch ist es beschissen und bei uns

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