Brief in die Auberginenrepublik
schon damals nicht verstand. Als er ein junger Mann war, verliebte er sich in ein Mädchen, das oft rote Stiefel oder einen roten Schal trug. Die beiden bezeichneten sich auch als »die roten Zwei«, weil sie, wie sie sagten, an »die roten kommunistischen Ideen« glaubten, mitsamt »der roten Fahne« und »der Roten Armee«. So ziemlich alles hatte bei den beiden Verliebten eine rote Farbe.
Die Ähnlichkeit meines Enkels mit meinem Sohn, seinem Onkel, ist für mich ein Mysterium. Früher konnte ich die Erinnerungen an meinen Sohn Nori nicht ertragen. Er war der einzige Sohn unter meinen vier Kindern. Dann verschwand er plötzlich aus unserem Leben. Er musste an die Front und kam nicht zurück. Oder doch, er kam zurück, aber ohne Gesichtszüge und ohne Haut, als verkohlte Leiche. Jahrelang wollte ich darüber nicht reden. Ich konnte nicht einmal Fotos ansehen, auf denen mein Sohn abgebildet war. Doch seit der Geburt meines Enkelsohns, dem kleinen Nori, hat sich das vollkommen geändert. Plötzlich ist es, als wäre der große Nori wieder da: neugeboren.
Bis 1988 sagte niemand Abu Samira zu mir, sondern Abu Nori – der Vater von Nori. Nach dem Tod meines Sohnes begannen die Leute mich Abu Samira zu nennen, weil sie merkten, wie ich litt, wenn Noris Name in meiner Gegenwart ausgesprochen wurde. Meine Frau Halima, Samiras Mutter – Om Samira, die vorher auch Om Nori hieß –, bat alle meine Freunde und Bekannten, dass sie mich nicht mehr Abu Nori nennen sollten. Seitdem verschwand der Name meines Sohnes aus meinem Leben.
Nach Noris Tod lief ich als traurige Gestalt durch die Gegend. Oftmals, wenn ich wie gewohnt meine Frau Om Nori rufen wollte, stolperte meine Zunge über den Namen meines Kindes. Noris Namen konnte ich nicht mehr aussprechen. Es schnitt scharf in mein Inneres, und das schmerzte mich. Seitdem rief ich meine Frau bei ihrem Vornamen Halima, und sie mich Latif. Das ergab sich unvermeidlich, ohne Absprache verwendeten wir unsere Vornamen und wurden auf einmal wieder fremde Menschen, die sich erst langsam kennenlernen mussten.
Seit jenem Sommer 1988 bin ich auch nicht mehr der Mann, der als fröhlich, gutmütig, hilfsbereit und Min-Ahl-Allah – reinen Herzens – bekannt war. Ich versank in Traurigkeit und wurde ein einsamer Mensch, meine Gesichtszüge verhüllte ein Schleier aus Melancholie. Wenn ich an meinen Sohn dachte, fühlte ich manchmal, als griffe mich ein unsichtbares mächtiges Tier an und hielte mich gefangen mit seinen großen Krallen. Mein Atem verlangsamte sich plötzlich bis zum Stillstand und das übliche »Ach«, das ich ausstoßen wollte, blieb in meiner Kehle stecken und in der Tiefe meines Wesens. Das Atmen war mir kaum noch möglich, ich drehte und wendete meinen Kopf, als wäre ich in einem Rausch: nach oben und unten, nach rechts und links … Das Gewicht meines Kopfes wurde schwerer und schwerer. Ich schüttelte ihn und spürte, wie die Halswirbel knackten, schloss die Augen, öffnete und schloss sie wieder. »Ach, Gott«, würgte ich hervor, aus meinem Bauch krochen rote Luft, roter Wind, rote Schlangen und rote Dämonen und anderes mehr. Wie ein vielköpfiges Ungeheuer sprang es aus meinem Herzen, dieses verzweifelte »Ach«. Mit den Händen bedeckte ich mein Gesicht und schluchzte »O Gott! Deine Gnade!«, atmete tief und schaute in den staubigen Himmel über Bagdad.
Tatsächlich habe ich selbst Nori in den Tod geschickt. Fast zwei Jahre vor dem Ende des Irak-Iran-Kriegs studierte mein Sohn Medizin, musste aber dann wie alle Universitätsabsolventen für einundzwanzig Monate an die Front. Er kam der Einberufung nach, träumte aber vom ersten Tag an vom Abschied von der Armee. Ein Jahr später, im April 1988, begann der Kampf an der Front im Süden härter zu werden, genau dort, wo er diente. Er wollte nicht länger kämpfen. Ich erinnere mich genau an Noris damalige Worte: »Ständig Leichen zu umarmen, kann ich einfach nicht mehr ertragen. Mir ist es unmöglich geworden, zwischen meinen Albträumen und der Realität zu unterscheiden.«
Tagelang versuchte ich, meinen Sohn zu überzeugen, Vernunft anzunehmen. »Es sind doch nur noch wenige Monate. Dann läuft deine Wehrpflicht ab, und du kannst als normaler Arzt arbeiten. Akademiker müssen volle einundzwanzig Monate gedient haben. Bitte zerstöre nicht leichtfertig unseren Traum! Ich habe das ganze Leben dafür gekämpft, dass meine Kinder die Universität besuchen und etwas im Leben erreichen können. Wenn du jetzt hier
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