Briefe an eine Freundin
Widerwärtigkeit entsteht,
und der Himmel hat Schmerz und Widerwärtigkeit so weise verteilt, daß der äußerlich noch so vorzüglich Begünstigte darum keinen Augenblick hindurch freier ist von Anlässen und Ursachen inneren Schmerzes. In einem schon ziemlich langen und gar nicht in einfachen Verhältnissen hingegangenen Leben sind mir mannigfaltige Dinge vorgekommen, die mich augenblicklich oder auf lange aus meinem ganzen gewohnten Lebenswege in einen andern, in vielen, gerade das Innerste berührenden Punkten verschiedenen gestoßen haben. Ich bin also den Empfindungen, die Sie jetzt haben, auf keine Weise fremd, und kann mir jeden Tag, da wir in der Hand des Schicksals sind, eine ähnliche bevorstehen. Ich verkenne auch darum die Art Ihrer Empfindungen nicht, weil ich, wie Sie allerdings Recht haben zu sagen, nicht gerade mit der äußeren Ursache sympathisieren kann. Das Wechseln einer Wohnung, das mir so oft von den angenehmsten zu den unlieblichsten begegnet ist, würde auf mich allerdings wenig Einfluß haben. Ich lebe zwar auch beständig in meiner Stube, bin jetzt zum Beispiel, trotz des Sonnenscheins, seit acht Tagen mit keinem Fuße anders, als zu den durch Gewohnheit bestimmten Tageszeiten, in das Nebenzimmer zu meiner Familie gekommen. Ich habe keine Bedürfnisse der Art, jede Stube ist mir gleich, ich brauche keine Bequemlichkeiten, den Rohrstuhl, auf dem ich sitze, und den Tisch, an dem ich
schreibe, ausgenommen. Sie würden keinen Spiegel, kein Sofa, nichts von dem allen bei mir finden. Allein auf die Ursache der Trauer kommt gar nichts an, es gilt nur diese, und ich sage Ihnen das nur, um jedem, auch stummem Einwand zu begegnen, daß ich bei einem Unfall, wie er Sie jetzt betrifft, mich nicht in Ihre Lage versetzen könnte. Ich kann es gewiß, da jeden reizbaren und nicht empfindungslosen Menschen niederschlagende Empfindungen ähnlicher Art betreffen. Aber gerade darum, meine eigenen Erfahrungen benutzend, muß ich Sie doch bitten, liebe Charlotte, sich durch dies Ereignis nicht auf solche Weise beugen zu lassen. Ich kann es nach Ihrer eigenen Schilderung nicht sowohl für ein empfindliches Übel halten, daß Sie gerade diese Wohnung verlassen, sondern mehr, daß Sie nicht wieder eine ungenierte Gartenwohnung mit Stille und Einsamkeit und ohne Mitbewohner gefunden haben. Was Sie mir einmal von der Kälte und Feuchtigkeit der Wände, auch wo Sie schlafen, sagten, hat mich sehr geschreckt, und kann Ihnen unmöglich zuträglich gewesen sein. Trotz alledem, was sich da sagen läßt, bleibt der Verlust, bis Sie eine andere ländliche und stille Wohnung finden, sehr groß, und läßt sich nicht wegräsonieren, auf keine Weise. Aber da, liebe Charlotte, bleibt, außer der Resignation, das zu tragen, was unabänderlich ist, doch auch der Genuß dessen, was Ihnen in Ihrem inneren Leben unentreißbar
bleibt, das Andenken an alles, was Ihnen teuer ist, der Umgang mit einigen Personen, denen Sie geneigt sind, das Bewußtsein eines immer reinen Gemüts ein bewegtes Leben hindurch, die Genugtuung an einem sich selbst geschaffenen Dasein, endlich, darf ich auch mit Freuden hinzusetzen, nach dem, was Sie mir so oft sagen, die Beschäftigung mit mir, die Sicherheit, wie innig ich alles Weh und alle Freude teile, die sich in Ihnen bewegen. Einer gewissen Stärke bedarf der Mensch in allen, auch den glücklichsten Verhältnissen des Lebens, vielleicht kommen sogar Unfälle, wie Sie jetzt einen erfahren, um dieselbe zu prüfen und zu üben, und wenn man nur den Vorsatz faßt, sie anzuwenden, so kehrt bald, auch selbst dadurch Heiterkeit in die Seele zurück, die sich allemal freut, pflichtmäßige Stärke geübt zu haben. – –
Überhaupt, liebe Charlotte, und ich denke das oft, mag es wohl sein, daß ich anders bin, als Sie sich mich manchmal gedacht hatten. Das kann eigentlich nicht fehlen, wenn man sich fast nie gesehen und nie miteinander gelebt hat. Ich schrieb Ihnen, im Beginn unsers Briefwechsels, Sie müssen mich nehmen, wie ich bin, ich kann aus meinem Wesen, wie es ist, nicht herausgehen. Meine wahren und eigentlichen Gesinnungen überhaupt und gegen Sie, liebe Charlotte, bleiben immer dieselben und ändern nie. Ob Ihnen der Ausdruck immer gleich erfreulich und ansprechend ist,
dafür kann ich nicht einstehen. Ich kann meiner Freiheit, weder in der Häufigkeit, noch in der Art, wie ich schreibe, etwas nehmen, und muß Sie da, wo ich zufällig nicht mit Ihnen oder Ihren Bemerkungen übereinstimme, um
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