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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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nur Bahnhof. Der Brief in seiner Hand war ganz offensichtlich in einer Sprache verfasst, die er nicht einmal in Ansätzen beherrschte.
    »Und, was steht da?«, fragte Phosy.
    »Ich habe keinen Schimmer.«
    »Hervorragendes Gedächtnis. Soso.«
    »Was haben Sie gesagt?«
    »Nichts.«
    »Obwohl ich den dunklen Verdacht habe, dass es sich um eine verschlüsselte Nachricht handelt, sollten wir sie für alle Fälle jemandem zeigen, der des Englischen mächtig ist. Was halten Sie davon, wenn wir ein paar Nachforschungen anstellen?«

4
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    Kaum waren Siri und Phosy im Lycée eingetroffen, kam Lehrerin Oum auch schon aus einem Klassenzimmer. Sie wirkte mutlos und verzagt. Eigentlich hatte die zierliche Frau von Anfang dreißig immer gute Laune, heute jedoch erinnerte ihre matte, ausdruckslose Miene eher an einen Hefekloß. Die Dreizehnjährigen in ihrem Schlepptau hatten denselben stumpfen Blick.
    »Oum!«, rief Siri.
    Sie starrte die beiden einen Moment lang verwirrt an und trat dann zu ihnen.
    »Genosse Siri. Genosse Phosy. Dem Himmel sei Dank.«
    »Was ist denn los?«, fragte Siri.
    »Nach einer Stunde Neuer Geschichte bin ich jedesmal fix und fertig.«
    Neue Geschichte gehörte, neben Russisch und Marxistisch-leninistischer Theorie, zu den Fächern, die das Bildungsministerium den Schulen aufgezwungen hatte. Der offiziellen Lesart zufolge hatte alles irdische Leben in den Höhlen von Houaphan seinen Anfang genommen, wo die Machtübernahme durch die Pathet Lao geplant und vorbereitet worden war. Während in Alter Geschichte die jahrhundertelange laotische Königsherrschaft und das Weltgeschehen im Mittelpunkt gestanden hatten, begnügte sich die Neue Geschichte mit der Darstellung der vergangenen fünfzig Jahre und schilderte den Westen wie einen winzigen, entlegenen Vorort von Vientiane, wohin sich nach Einbruch der Nacht kein aufrechter Laote mehr verirrte.
    »Aber Sie sind doch Chemielehrerin«, wandte Siri ein.
    »Ich war, Doktor. Ich war. Und werde es ab Donnerstag auch wieder sein. Aber wir sind nun einmal dazu angehalten, auch andere Fächer zu unterrichten.« Sie blickte zu Phosy, über dessen politische Ansichten sie sich nicht recht im Klaren war. In Zeiten wie diesen konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. »Ein geniales System. Neuerdings unterrichte ich montags Sport. Ist das zu fassen? Seit mich die Schüler vorige Woche das erste Mal in kurzen Turnhosen gesehen haben, hat sich die Hälfte von ihnen krankgemeldet.«
    »Mit Verlaub, aber Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von neuerer Geschichte«, gab Siri zu bedenken.
    »Das ist auch gar nicht nötig«, sagte sie und hielt einen dicken Ringordner prallvoll mit Papieren in die Höhe. »Es steht alles hier drin. Ich brauche die entsprechende Lektion bloß an die Tafel zu schreiben, und die Kinder schreiben sie ab.«
    »Und heute ging es um …?«
    »Den großartigen Sieg bei Sala Phou Khoun.«
    »Ach ja? Ich war dabei. Und konnte ihn so großartig eigentlich nicht finden«, sagte Siri. »Hätte ich das gewusst, wäre ich schon etwas früher gekommen, um die eine oder andere Kleinigkeit zurechtzurücken.«
    »Tut mir leid«, sagte sie und führte sie zu einer Bank auf dem Schulhof. »Aber Abweichungen vom Lehrplan sind strengstens untersagt. In jeder Klasse gibt es einen Spitzel – pardon, ich meine natürlich Vertrauensschüler –, der dem Politoffizier der Schule Meldung macht. Die Kinder dürfen noch nicht einmal Fragen stellen. Was allerdings nicht weiter schlimm ist; ich könnte sie ohnehin nicht beantworten.«
    Sie plumpste auf die Bank, als hätte sich ihr Gewicht während des Unterrichts verdoppelt. »Und? Was kann ich für die beiden begehrtesten Junggesellen der Hauptstadt tun? Sie wissen doch, dass ich keine Chemikalien habe. Die liegen nach wie vor beim Zoll. Wie man hört, haben die Schnüffler vom Innenministerium sie geschnupft, wohl in der Hoffnung, es könnte sich um halluzinogene Drogen handeln.«
    Siri und Phosy ließen sich links und rechts von ihr nieder. Siri holte den Brief des Blinden hervor.
    »Eigentlich hatten wir es eher auf Ihr Englisch abgesehen«, sagte er.
    Oum hatte kurz vor der Machtübernahme durch die Kommunisten ein Aufbaustudium im australischen Sidney begonnen und im Zuge dessen zwei folgenschwere Fehlentscheidungen gefällt. Erst hatte sie sich von einem fuchsblonden Aussie schwängern lassen, der kurz darauf das Weite gesucht hatte. Ein Missgriff, dem sie die Geburt ihres Sohnes Nali

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