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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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Ich hatte angenommen, der Staat würde sich um alles kümmern. Ich fürchte, ich bin mit den kommunistischen Gepflogenheiten nicht allzu vertraut. Ich weiß nur, dass das neue System recht reibungslos zu funktionieren scheint. Sonst wären Sie wohl kaum hier.«
    Die beiden Männer verzichteten darauf, ihr zu widersprechen und sie darauf hinzuweisen, wie selten dieser Dienst am Kunden war.
    »Genossin«, sagte Phosy, »wir wären Ihnen überaus dankbar, wenn Sie uns bei der Lösung eines kleinen Rätsels behilflich sein könnten.«
    »Ich werde mein Bestes tun.«
    Er zog das gefaltete Blatt Papier aus der Brusttasche seines Hemdes und reichte es Dr. Buagaews Frau. »Uns würde interessieren, was das zu bedeuten hat. Ihr Mann hat es offenbar kurz vor seinem Tod vom Postamt abgeholt.«
    Siri fiel auf, dass sie den Brief entgegennahm, ohne das Gesicht zu verziehen oder auch nur mit der Wimper zu zucken. Er fragte sich, ob sie überhaupt eine Gesichtsmuskulatur besaß. Nachdem sie die Liste ausgiebig studiert hatte, hob sie den Kopf und sah Phosy an. Zu Siris Erstaunen brachte sie so etwas wie ein Lächeln zustande.
    »Gar nichts, wenn Sie mich fragen«, sagte sie.
    »Wir waren bloß neugierig«, erklärte Siri hastig. »Wir haben sozusagen gewettet, was es damit auf sich haben könnte.«
    Sie blickte vom einen zum anderen, wie um das Gesamtgewicht ihrer beider Intelligenz zu schätzen. Schließlich wies sie mit gerecktem Kinn auf einen kleinen antiken Tisch hinter ihren Stühlen. Darauf lag ein fein gearbeitetes Schachbrett, dessen teure Jadefiguren aussahen, als seien sie mitten in der Schlacht erstarrt.
    »Wissen Sie, was das ist, meine Herren?«, fragte sie. Siri hob zu einer Antwort an, doch sie fuhr unwirsch dazwischen. Sie hielt die beiden Männer offenbar für weltfremd. »Das ist ein altmodisches Spiel namens Schach. Es ist sehr kompliziert. Mein Mann hat einmal versucht, es mir beizubringen, aber ich habe keinen Sinn für solch triviale Zerstreuungen. Dr. Buagaew liebte das Spiel, fand in diesem Provinznest aber niemanden, mit dem er sich darin messen konnte. Deshalb unterhielt er seit einigen Jahren eine Fernschachbeziehung mit einem alten Schulfreund aus dem Süden. Ich glaube, es waren auch noch andere Spieler beteiligt, aber Genaueres kann ich Ihnen leider nicht sagen. Sie spielten per Post.«
    »Dann stehen diese Symbole …?«
    »… für ihre jeweiligen Spielzüge. Wäre Dr. Buagaew nicht verunglückt, säße er jetzt an diesem Tisch, und ich müsste ihm die Liste vorlesen.«
    »Sie beherrschen das englische Alphabet?«, fragte Phosy.
    »Einigermaßen. Im Unterschied zu meinem Mann, der fließend Englisch sprach.«
    »Und wenn Sie ihm die verschlüsselten Nachrichten seines Freundes vorlasen, wusste Dr. Buagaew, welche Züge er zu machen hatte?«, fragte Siri weiter.
    »Er ertastete die Figuren mit den Fingerspitzen. Schach ist eines der wenigen Spiele, an denen man auch als Blinder seine Freude haben kann. Wenn er sich zu einem Gegenzug entschlossen hatte, diktierte er mir den Code, und ich schrieb seinem Freund zurück.«
    »Etwa auch mit unsichtbarer Tinte?«, erkundigte sich Phosy.
    »Unsichtbare Tinte? Um Himmels willen, nein. Warum sollte ich so etwas tun?«
    »Weil dieser Brief ursprünglich nicht zu entziffern war. Er ist mit einer Speziallösung geschrieben, und wir mussten ihn einer chemischen Behandlung unterziehen, um ihn lesbar zu machen.«
    »Meine Güte. Das klingt ganz nach einem der kleinen Scherze des Freundes meines Mannes. Er hatte eine Vorliebe für solche Spielchen, sehr zum Ergötzen des Doktors. Einmal schrieb er alles in Spiegelschrift. Ein andermal dann auf Chinesisch. Ich habe eine ganze Nacht über dem Wörterbuch gebrütet.«
    »Komischer Kauz.«
    »Ich glaube, er wollte Buagaew nach seiner Erblindung nur ein wenig aufmuntern.«
    »Aber normalerweise schrieben sie sich in lateinischer Schrift?«
    »Ja.«
    »Haben Sie eine Ahnung, warum?«
    »Mein Mann und sein Freund hatten als Halbwüchsige schachspielen gelernt, von einem britischen Quäkermissionar. Insofern war es nur natürlich, dass sie sich bei ihren Fernpartien auf diese Art austauschten.«
    Damit war Phosys Vernehmung beendet. Er schien mit den Erklärungen der Frau zufrieden, doch Siri hatte noch eine letzte Frage.
    »Warum machte er die beschwerliche Fahrt in die Stadt eigentlich selbst? Es wäre doch viel einfacher gewesen, die Briefe von Ihnen abholen zu lassen.«
    »Doktor, in Ihrer langen Laufbahn sind Ihnen

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