Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
verdankte, eines der in Laos äußerst raren rothaarigen Babys. Dann hatte sie beschlossen, ihr Studium abzubrechen und in ihr Heimatland zurückzukehren. Kaum war sie am Flughafen Wattay gelandet, klebten ihr die Spitzel der Regierung an den Fersen. Schließlich konnte sie nur eine Spionin sein. Warum sonst hätte sie gegen den Strom der Flüchtlinge schwimmen sollen, die zu Zehntausenden das Land verließen? Zu allem Übel sprach sie auch noch Englisch – ein dekadentes Werkzeug des Westens zur Verbreitung von Lügen und Propaganda. Lehrerin Oum stand ganz oben auf der Schwarzen Liste.
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte sie und nahm Siri das Stück Papier aus der Hand. Sie überflog die Liste.
»Was soll das heißen?«, fragte Phosy.
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Englisch ist es jedenfalls nicht«, sagte sie. »Aber das wussten Sie natürlich längst, nicht wahr, Doktor? Sie sind nicht wegen meiner Sprachkenntnisse hier.«
»Wie, bitte, soll ich das verstehen?«
»Siri, Sie wissen doch genau so gut wie ich, dass diese Liste verschlüsselt ist. Es könnte sich auch um Französisch oder irgendeine andere Sprache handeln, die sich der lateinischen Schrift bedient. Sie sind nur hier, weil Sie wissen wollten, ob ich den Code knacken kann. Sie halten mich auch für eine Spionin.«
»Ich halte Sie für nichts dergleichen. Aber ich weiß, dass Sie über einen messerscharfen Verstand verfügen und Ihnen eine so simple Denksportaufgabe wie diese vermutlich kein allzu großes Kopfzerbrechen bereitet. Dass Sie eine Spionin sind, spielt dabei nicht die geringste Rolle.«
»Siri, ich bin keine …«
»Ich bitte um Verzeihung. Wären Sie vielleicht trotzdem so freundlich, einen Blick daraufzuwerfen?«
Widerstrebend notierte Oum die Nachricht auf der Rückseite eines ihrer Geschichtslehrblätter. Sie schien auf den ersten Blick vollkommen rätselhaft:
22
36pwacheydao iaik rkj qhb
oo faopwipecp bqav 24li
gaej aejs rkj ll
jaqa oleahan
x26k/dxo xaopwipecp
x28k/ioo xaopwipecp
izx xaopwipecp
x24ok/cajgl xaopwipecp
x28o/cajol kbbar
dgg xaopwipecp
dlg xaopwipecp
x30o/xbdzg kbbar
x32o/iog xaopwipecp
igg xaopwipecp
z zwu rknwqoo 52wqc
wjpsknp zenagp wj
zea paqbahorwcejw
»Ich schaue mir das heute Abend mal an«, sagte sie, sichtlich verstimmt, weil Siri sie für eine Spionin hielt. »Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Ich bin schließlich keine Dechiffrierungsexpertin.«
»Verehrte Oum«, sagte Siri lächelnd, »für jemanden, der selbst mit Sport und Geschichte keine Schwierigkeiten hat, müsste dieses kleine Rätsel doch eigentlich ein Klacks sein.«
Von Vientiane nach Dong Bang waren es gut dreißig Kilometer. Wäre die Straße nicht so schlecht gewesen, hätte Siris alte Triumph die Strecke in zwanzig Minuten bewältigt. Wie sich herausstellte, brauchten sie fast doppelt so lange. Phosy hielt die Hände so fest vor Siris Brust verschränkt, dass sie sich nur mit Mühe wieder trennen ließen, als sie schließlich vor dem hölzernen Pavillon zum Stehen kamen, der dem Überlandbus als Haltestelle diente. Wie die meisten anderen laotischen Siedlungen lag auch das Dorf unter einer dicken Staubschicht in sechzehn verschiedenen Brauntönen begraben. Zwei kleine Holzhäuser mit Läden davor grenzten an die Straße, doch nirgends war ein Mensch zu sehen. Im Schatten des Bushäuschens lag ein Hundepärchen, das sich im Traum leise anknurrte.
Siri und Phosy hatten sich an der Bushaltestelle am Morgenmarkt in Vientiane nach dem blinden Mann erkundigt. Er musste doch jemandem aufgefallen sein. Es dauerte nicht lange, und man verwies sie an die Linie Dong Bang – Ban Nathe. Der Überlandbus tuckerte im Leerlauf vor sich hin und saß wie eine große fette Ente in einem Nest von Auspuffgasen. Sie sprachen mit dem Fahrer. Er hatte den blinden Mann zwar nicht am Vortag, aber bei zwei oder drei anderen Gelegenheiten in die Stadt mitgenommen. Das letzte Mal vor gut zwei Wochen. Der Fahrer erinnerte sich, dass der blinde, alte Mann immer zusammen mit einer Frau an der Haltestelle in Dong Bang gewartet hatte. Sie hatte den Bus angehalten und beim Fahrer bezahlt, den alten Mann jedoch nicht begleitet und ihn bei seiner Rückkehr auch nicht abgeholt. Beim Morgenmarkt war der Blinde wie alle anderen ausgestiegen und gegenüber im Bureau de Poste verschwunden. Dann hatte er den nächsten Bus zurück genommen.
Er war also nicht zum ersten Mal in die Stadt gefahren, um postlagernde Briefe abzuholen. Und so
Weitere Kostenlose Bücher