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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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hatten Siri und Phosy sich mangels anderweitiger Verpflichtungen kurzentschlossen nach Dong Bang aufgemacht, um herauszufinden, wo der Blinde gewohnt hatte, und seiner Familie die traurige Nachricht zu überbringen. Es ging nicht mehr nur darum, die fehlenden Angaben auf dem Totenschein zu ergänzen und ihre jeweiligen Akten zu schließen, nein, sie standen buchstäblich vor einem Rätsel. Wer schickte einem Blinden Briefe, und warum machte der Betreffende sich die Mühe, sie zu verschlüsseln und noch dazu unsichtbare Tinte zu benutzen? Eine harte Nuss, der weder Siri noch Phosy widerstehen konnte.
    Sie stellten das Motorrad hinter dem Pavillon ab und gingen zum ersten der beiden Läden. Es war eine Garküche, die nebenbei Komposterde en gros verkaufte. Auch aus Schrapnellresten gefertigte Hacken und Schaufeln waren im Angebot. Die Köchin/Ladenbesitzerin lag dösend in einer zwischen den beiden Dachbalken des Häuschens aufgespannten Hängematte. Als Siri hustete, schlug sie widerwillig die Augen auf und musterte die beiden Störenfriede.
    »Ja, meine Lieben?«
    »Wir suchen das Haus eines Blinden, der hier wohnen soll«, sagte Phosy. »Sein Name ist Bounthan.«
    »Nein, Schätzchen«, sagte sie. »Hier gibt es nur einen Blinden, und das ist Dr. Buagaew.«
    Siri und Phosy sahen sich an. » Doktor Buagaew?«, fragte Phosy. »Ein Arzt?«
    Die Frau kratzte sich zwischen den Brüsten. »Zahnarzt, um genau zu sein. Aber wir nennen ihn nur ›Doktor‹.«
    »Ein blinder Zahnarzt?«, stieß Phosy ungläubig hervor.
    »Er ist nicht immer blind gewesen, Schätzchen«, sagte sie und kratzte sich nun durch das dicke Segeltuch der Hängematte an ihrem ausladenden Hinterteil. »Er war ein verdammt guter Zahnarzt, bis ihn der graue Star heimsuchte. Die Leute kamen aus der ganzen Gegend, um sich von Dr. Buagaew die Zähne richten zu lassen. Aber da seine Augen immer schlechter wurden, machte er natürlich auch immer mehr Fehler, bis er seinen Beruf schließlich an den Nagel hängen musste. Seine Patienten störte es nicht, dass er blind war; immer noch besser, als extra nach Vientiane fahren zu müssen. Aber er litt wie ein Hund, wenn er wieder mal jemandem den falschen Zahn gezogen hatte. Das hat ihn charakterlich völlig verändert. Er kapselte sich immer mehr ab. Sprach mit keinem Menschen mehr ein Wort.«
    »Und wovon lebte er nach seiner Erblindung?«, fragte Siri.
    »Keine Ahnung, Schätzchen. Aber warum fragen Sie ihn das nicht selbst? Es ist das einzige zweistöckige Haus im ganzen Dorf. Nicht zu verfehlen.«
    Siri und Phosy überquerten die ruhige Hauptstraße und gingen in die angegebene Richtung. Die Nachricht von Dr. Buagaews Ableben war offenbar noch nicht bis ins Dorf vorgedrungen. Diesen Teil seiner Arbeit verabscheute Dr. Siri am meisten: die Verständigung der Hinterbliebenen. Doch zu seiner Verblüffung wusste die weißhaarige, spindeldürre Frau des blindes Zahnarztes bereits, dass sie Witwe war. Als ihr Mann nicht mit dem nächsten Bus zurückgekommen war, hatte sie sich Sorgen gemacht. Sie war in die Stadt gefahren, um ihn zu suchen. Die Schreibwarenverkäufer vor dem Postamt hatten ihr von dem Unfall erzählt. Obwohl sie ihren Besuchern immer wieder versicherte, wie schrecklich betrübt sie doch sei, wirkte sie seltsam ungerührt. Die drei saßen auf dichtgeflochtenen Korbstühlen in dem auch sonst recht nobel eingerichteten Wohnzimmer. Unter der Decke drehte sich ein großer Messingventilator. Verarmt waren der Doktor und seine Frau nach der Schließung seiner Praxis jedenfalls nicht.
    »Wir haben uns gefragt, warum Sie die Leiche Ihres Mannes nicht haben abholen lassen«, sagte Siri.
    »Aber es wusste doch niemand, wohin man ihn gebracht hatte«, antwortete sie. Ihre Stimme war so leise, dass das Sirren des Ventilators sie fast völlig übertönte, ihre Haut dunkel und zerfurcht wie die gekräuselte Oberfläche eines nächtlichen Teiches. Sie hatte ihren Gästen nichts zu trinken angeboten.
    »Aber da hätte es doch nahegelegen, in der Leichenhalle nachzufragen«, fuhr Siri fort. Normalerweise wäre er ein wenig rücksichtsvoller vorgegangen, doch das Verhalten der trauernden Witwe verriet ihm, dass sie nicht halb so untröstlich war, wie sie die beiden glauben machen wollte.
    »Sie haben wahrscheinlich recht«, sagte sie. »Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht besonders gut aus.«
    »Mit Verbrennungen und Bestattungszeremonien, meinen Sie?«
    »Mit den Totenritualen unter einem sozialistischen Regime.

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