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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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Reaktion.
    »Hm«, machte er. »Vielen Dank. Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, was …«
    »Zehntausend Kip.«
    »Hä?«
    »Zehntausend. Bar auf die Hand. Keine Schecks.«
    »Ich dachte, Sie nehmen kein Geld.«
    »Vorhersagen sind grundsätzlich gratis. Interviews kosten.«
    »Ich hatte nicht vor, Sie zu interviewen.«
    »Dann hören Sie auf, mich mit albernen Fragen zu löchern, und geben Sie mir einen Kuss.«
    »Was?«
    »Kleiner Scherz am Rande. Ich wollte nur Ihr dummes Gesicht sehen. Nun denn, Dr. Siri. Dr. Siri Paiboun. Was in Ihrer Umgebung kreucht und fleucht, scheint sich beruhigt zu haben. Habe ich recht?«
    Siri wusste sofort, was sie meinte. Über einen Monat hatten Vögel, Insekten und andere Kleintiere in seiner Gegenwart ein sonderbares Verhalten an den Tag gelegt. Doch seit er vor einer Woche neben einem großen Gecko aufgewacht war, der rücklings auf seinem Kopfkissen gelegen und friedlich vor sich hin geschnarcht hatte, schien wieder alles beim Alten. Aus irgendeinem Grund wunderte es ihn nicht im Geringsten, dass Tante Bpoo davon wusste.
    »Ja.«
    »Gut. Nur ein kleiner Energieschub, weiter nichts. Trotzdem sollten Sie die Tierwelt im Auge behalten. Das gilt insbesondere für alles, was im Wasser lebt.«
    »Sie meinen Fische?«
    »Zehntausend Kip.«
    »Pardon.«
    »Sie werden sich immer weniger auf Ihre Sinne verlassen können.«
    »Das ist mir auch schon aufgefallen.«
    »Keine Sorge, das vergeht. Ihr Körper macht gewisse Veränderungen durch.«
    »Mist, ich dachte, das hätte ich schon seit Jahrzehnten hinter mir.«
    Sie fuhr fort. »Sie werden ein stetiges Auf und Ab erleben. Herrliche Zeiten stehen Ihnen bevor.«
    Völlig unvermittelt hob sie den Saum ihres Crêpekleides und gewährte Siri einen flüchtigen Blick auf ihre Genitalien. An dem ohnehin vorhandenen waren mit rosa Plastikschnur vier oder fünf zusätzliche Gehänge befestigt: eine zierliche Silberkugel, zwei Tischtennisbälle und eine Seemuschel. Mehr konnte Siri sich in der kurzen Zeit nicht merken. Einen Penis hatte er nicht gesehen, aber der verlor sich vermutlich im Gedränge. Tante Bpoo ließ ihr Kleid wieder sinken und fuhr fort, als wäre nichts geschehen.
    »Eins noch, alter Narr. Und denken Sie an meine Worte. Jeder böse Mensch hat einen Schatten. Trägt dieser Schatten weniger Schuld als er selbst?«
    Siri ließ sich auf dem Ledersitz seines altersschwachen Motorrades nieder und konnte es nicht fassen: dreiundsiebzig Jahre und noch immer keinen Schimmer, noch immer ein Opfer seiner dumpfen, triebhaften Instinkte. Und plötzlich auch noch abhängig von einem Mann in Frauenkleidern, der nicht nur in Rätseln sprach, sondern ihm obendrein das Gefühl gab, winzig klein zu sein wie eine Kopflaus. Doch diese Mannfrau wusste alles. Sie wusste, womit Siri in Verbindung stand und was in ihm und seinem Körper vorging. Dem Doktor blieb nichts anderes übrig, als ihren Worten zu lauschen und sie hoffentlich richtig zu deuten. Das Leben, das man Siri aufgezwungen hatte, war so einsam, dass sich selbst seine engsten Vertrauten keinen Begriff davon machen konnten. So verschroben seine neue Bekannte auch sein mochte, er war fest entschlossen, sie zur Freundin zu gewinnen.
    Obgleich der Traum von Anfang bis Ende schwarz war, handelte es sich zweifellos um einen Traum. Es war wie ein Kinobesuch, bei dem der Projektor ausfällt und man in der Dunkelheit sitzt und darauf wartet, dass der Vorführer den Schaden behebt, man sitzt und sitzt, aber der Film geht nicht weiter. Siri saß allein im Saal und wartete. Er roch das schale Popcorn, das sich im Teppichboden festgetreten hatte, sah die schmalen Lichtstreifen rings um die Notausgänge. Aber es lief kein Film.
    Er erwachte in seinem Bungalow, den ihm die Regierung zur Verfügung gestellt hatte; die Sonne schien noch nicht durch die Micky-Maus-Vorhänge. Seine Traumleitung ins Reich der Toten war gestört. Aus irgendeinem Grund war er ans Diesseits gefesselt. Mit einem Mal fühlte er sich verwundbar – und sterblich.
    Siri und Civilai saßen auf ihrem Baumstamm und starrten auf den Sand, den Matsch und das klägliche Rinnsal, in das die anhaltende Dürre den Mekong verwandelt hatte. In China hatte die Regenzeit verspätet eingesetzt, und die sehnlichst erwarteten Fluten waren noch nicht bis in den Unterlauf des Flusses vorgedrungen. So wenig Wasser hatte der Mekong um diese Jahreszeit noch nie geführt. Es war ein deprimierend dröger Anblick. Selbst das wohlhabende Thailand am anderen

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