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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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ihre Pracht vermochte Siris Laune nicht zu heben. Ein zweiter Regentropfen klatschte in die verdorrten Blätter über ihren greisen Häuptern. Civilai reichte Siri ein Baguette, der sich daran festhielt, während er auf eine Antwort wartete.
    »Weil«, sagte Civilai, »man bei der Planung eines Gegenputsches berücksichtigen muss, was passieren würde, wenn der Putsch erfolgreich verliefe. Die Anführer würden sämtliche Widerständler umgehend verhaften und liquidieren lassen. Will sagen, je weniger Mittelsmänner, desto besser.«
    »Ich bin doch kein Mittelsmann. Dann sollen sie mich meinetwegen liquidieren. Oder hast du Angst, dass ich beim Verhör einknicke und deine ominösen ›Leute‹ anschwärze?«
    Eine klägliche Anzahl quallengroßer Regentropfen fiel vom Himmel.
    »Nein«, sagte Civilai und biss herzhaft in sein Mittagessen. »In deinem Fall würde es wahrscheinlich genügen, dir einen reichlichen Kaffeevorrat und ein sorgenfreies Leben zu versprechen, und du würdest singen wie ein Scharlachgimpel.«
    »Wenn der Putsch erfolgreich wäre, würde ich mir diese Scheißkerle vorknöpfen und ihnen ordentlich die Meinung geigen.«
    »Das ist genau die Art von Diplomatie, der du deine Misere zu verdanken hast. Wenn du …« Ein riesiger Regentropfen verfehlte den Baum und landete mit einem lauten Platsch in Civilais Gesicht. Siri lachte und wischte seinem Freund mit einer Serviette die Brille sauber. Rasch wich der Ernst der Politik dem Ernst des Essens. Das Brot war frisch und der Belag gar köstlich. Diese beiden Männer wussten ein anständiges Baguette zu schätzen. Und sie wussten, welches Getränk damit am besten harmonierte. Siri bot Civilai einen Schluck Wassernabelsaft aus seiner Taschenflasche an. Mit Cabernet Sauvignon hätte ihnen das Sandwich nicht besser gemundet. Sie mampften schweigend vor sich hin und sahen den schweren Regentropfen zu, die so träge in den Fluss fielen, dass man sie kaum als Schauer bezeichnen konnte.
    Trotz ihrer misslichen Lage war Siri glücklich und zufrieden, wie immer, wenn er mit seinem Freund essend und trinkend am Mekongufer saß. Er wandte den Kopf und musterte Civilai. Wenn er versuchte, ihn anderen zu beschreiben, ging er jedesmal eine lange Liste von Insekten durch – Ameise, Hornisse, Wespe –, bis er einen passenden Vergleich gefunden hatte. Civilai besaß ohne Zweifel Ähnlichkeit mit einem Grashüpfer. Sein Kopf sah aus wie ein überdimensionaler, mit Haut bezogener Helm, besonders von hinten. Vorne, auf seiner spitzen Nase, thronte eine riesige, schwarzgefasste Brille. Sein schlaksiger Grashüpferkörper schien aus nichts als dürren Knochen und spitzen Gelenken zu bestehen. Beim Essen glitt sein mächtiger Adamsapfel wie ein Fahrstuhl auf und ab.
    »Wenn du nicht sofort aufhörst, mich anzustarren, hau’ ich dir eine rein«, sagte Civilai, ohne Siri anzusehen.
    »Es tut mir leid, aber selbst wenn ich wollte, könnte ich den Blick nicht von deiner betörenden Schönheit wenden.«
    »Mir scheint, Sie verbringen etwas zu viel Zeit mit den Toten, Dr. Siri.«
    Wie Siri schuldete auch Civilai seinen akademischen Grad und seine politische Überzeugung den Franzosen. Während Siri nach dem Besuch der Tempelschule dank einer großzügigen Gönnerin nach Paris gekommen war, hatten Civilais Eltern die Karriere ihres Sprösslings von Anfang an sorgfältig geplant. Sein reicher laotisch-chinesischer Vater war mit der Tochter einer noch reicheren vietnamesisch-chinesischen Familie vermählt worden, und noch bevor Civilai das Licht der Welt erblickte, stand fest, dass Herr und Frau Songsawats Sohn dereinst an der Sorbonne studieren würde. Sie hatten dem Jungen in Saigon eine frankophile Schulausbildung angedeihen lassen und ein kleines Vermögen in Spenden investiert, um ihm einen Studienplatz zu sichern. Wie sich herausstellte, hätte er mit seinen Zensuren ohne Weiteres ein Stipendium erhalten. Als er schließlich an Bord der Victor Hugo gen Europa segelte, rechnete seine Familie fest damit, dass ihr begabter Filius eines schönen Tages mit einem Summa-cum-laude-Abschluss in Jura und Betriebswirtschaft heimkehren und die Geschicke ihres Konzerns in Laos lenken würde.
    Leider hatten sie dabei eines nicht bedacht. Civilai hatte seinen eigenen Kopf, und einen klugen noch dazu. Am Lycée in Saigon hatte er sich mit einem anderen Mandarinensohn namens Hok Nguyen Truk angefreundet. Beide waren Idealisten, und getrieben von ihrer angeborenen Neugier, machten sie eine gar

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