Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
beobachtete Haeng aus den Augenwinkeln, wie der Mann kopfschüttelnd und mißbilligende Laute ausstoßend über den Dokumenten brütete. Weshalb der Richter in Sachen Rechtschreibung und Grammatik neuerdings besondere Sorgfalt walten ließ. Auch mied er sein Büro, solange Phat dort residierte, und befand sich folglich nur selten an seinem Arbeitsplatz.
Kurz und ungut: So kam es, dass Haeng und Siri sich vor Frau Manivones Schreibtisch im Schreibbüro über den Weg liefen.
»Ah, Siri«, rief Haeng, als würde er sich tatsächlich freuen, dem Doktor zu begegnen.
»Richter Haeng.«
»Was führt Sie hierher?«
»Ich wollte nur rasch meine wöchentlichen Berichte abliefern. Ich war gerade auf dem Weg in …«
»Gut. Ich bin froh, dass ich Sie noch erwische.«
»Wirklich?«
»Und wie. Es gäbe da eine Kleinigkeit, die Sie für uns erledigen könnten.«
»Kommt ganz darauf an. Wann?«
»›Wann?‹ Das ist nicht unbedingt die Antwort, die ich von einem Soldaten der Revolution erwartet hätte.« Haengs Blick wanderte von einer Schreibkraft zur anderen. Er schien instinktiv zu spüren, dass seine Untergebenen ganz begierig waren auf eine seiner selbstverfertigten sozialistischen Weisheiten. »Ein wahrer Krieger würde sagen: ›Auf in die Schlacht!‹«
»Ach ja?«
»Jawohl. Ein aufrechter Sozialist würde sich kopfüber in die reißenden Fluten stürzen, ungeachtet ihrer Tiefe.«
»Könnte er sich da nicht empfindlich den Schädel prellen?«, fragte Siri.
»Was?«
»Wenn das Wasser gar zu flach ist.«
»Ich habe … Nein. Das wäre ihm völlig einerlei. Er würde …«
»Und wenn er nicht schwimmen kann? Wie ich?« Hinter ihnen ertönte ein unterdrücktes Kichern.
»Das ist doch nicht wörtlich zu verstehen, Siri. Sondern im übertragenen … Ach, was soll’s. Kommen Sie mit. Ich muss Sie dringend unter vier Augen sprechen.« Er steuerte zielstrebig auf den Ausgang zu. Siri wusste, warum.
»Geht es zu Ihrem Büro nicht da entlang?«
»Ja, aber das ist … besetzt. Wir können uns auch draußen unterhalten.«
Auf dem Weg zur Tür schnappte Haeng sich ein kleines rotes Buch von einem großen Stapel neben der Andenkenvitrine. Erst als sie beim Basketballfeld angekommen waren, blieb er stehen. Der Platz, auf dem die amerikanischen Imperialisten sich seinerzeit fröhlich den Feierabend vertrieben hatten, war im Begriff, von der Natur zurückerobert zu werden. Spilleriges Efeu und wenig prunkvolle Prunkwinden überwucherten die Bretter und rankten sich wie Trauerkränze um die Körbe.
Die Wolken rülpsten, und grollender Donner rollte gemächlich über den Himmel.
»Sieht aus, als ob wir endlich Regen kriegen würden«, sagte Haeng. Es war die erste vernünftige Bemerkung, die Siri aus dem Mund des pickligen jungen Mannes je vernommen hatte. Er war so verdutzt, dass ihm keine passende Antwort einfiel. »Aber wie dem auch sei«, fuhr Haeng fort, »im Süden ist es zu einem blamablen Zwischenfall gekommen.«
»Die Südlaoten sind ja geradezu berüchtigt dafür, ihre nördlichen Nachbarn bisweilen zu blamieren.«
»Sie sagen es. Wie es scheint, hat ein stellvertretender Gouverneur es fertiggebracht, sich in der Badewanne mittels eines Stromschlags eigenhändig ins Nirwana zu befördern.«
»Wie ungeschickt.«
»Ja, das kann man wohl sagen. Aber es gibt da ein paar kleinere Komplikationen. Ich habe heute Morgen eine Stunde mit dem Gouverneur telefoniert. Er vermutet eine politische Verschwörung.«
Siri lachte. »Hinter einem Stromtod in der Badewanne?«
»Bitte, Siri. Das ist alles andere als witzig. Der stellvertretende Gouverneur hat der sowjetischen Botschaft in Vientiane vor nicht allzu langer Zeit einen Höflichkeitsbesuch abgestattet. Wie Sie sich vielleicht entsinnen, hat der Botschafter die leidige Angewohnheit, lausige Haushaltsgeräte aus sowjetischer Produktion als Gastgeschenke zu verteilen: Bügeleisen, Ventilatoren, Lötkolben undsoweiter undsofort. Die meisten sind so konstruiert, dass sie selbst einen Raketenangriff überstehen würden – alles aus einem Guss. Wenn sie kaputtgehen, bleibt einem nichts anderes übrig, als sie zu verschrotten und sich etwas Neues zu kaufen. Tja, der stellvertretende Gouverneur bekam einen Tauchsieder als Gastgeschenk. Sie wissen schon: ein dicker Holzgriff mit einem Haken und einer langen Heizspirale.«
»Ich habe einen. Man hängt ihn über den Badewannenrand, steckt den Stecker in die Steckdose, und er erhitzt das Wasser.«
»Genau. Wie es aussieht,
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