Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
hat keine Eile. Wenn man dem Brief glauben darf, haben wir bis zum Dreißigsten Zeit. Das sind zwei Wochen. Sobald Sie sich erholt haben, Inspektor Phosy, würde ich mit Ihnen gern noch einmal nach Dong Bang hinausfahren, vielleicht hat die Frau des Zahnarztes seine Briefe ja aufbewahrt. Genosse Civilai kommt heute Abend aus Moskau zurück. Ich möchte ihn ins Bild setzen, ehe wir vorschnelle Maßnahmen ergreifen. Er kennt sich in diesen Dingen aus und kann uns die nötigen Kontakte vermitteln. Außerdem weiß er, wem wir vertrauen können und wem nicht.«
Phosy und Dtui hatten nichts dagegen. Sie suchten ihre Sachen zusammen und trotteten zur Tür. Im Eingang blieb Dtui stehen und drehte sich noch einmal um.
»Wissen Sie was?«, sagte sie. »Ich habe keine Ahnung, wie Sie das anstellen, Doc. Sie sind älter als Angkor Wat, haben die ganze Nacht gepichelt und sehen trotzdem so frisch und knackig aus wie eine Garnele auf dem Grill. Was ist Ihr Geheimnis?«
Siri überlegte kurz, ob er die Wahrheit sagen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen. »Je nun. Ein Leben ohne unreine Gedanken«, sagte er. »Möge es Ihnen zum Beispiel dienen, Dtui.«
Es war ein sonderbarer Nachmittag. Die dicken Quellwolken, die tief über Vientiane hingen, gaben wenig Anlass zur Hoffnung. Sie sahen aus wie ein Bühnenbild, das sich jederzeit beiseiteschieben ließ. Was Laos brauchte, war Regen und nicht allein die Aussicht darauf. Siri hatte in Civilais Büro vorbeigeschaut. Laut seiner Sekretärin sollte er am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe eintreffen und würde vor Mittag wohl kaum imstande sein, einen Staatsstreich niederzuschlagen. Und so hinterließ Siri ihm rasch die Nachricht, dass er ihren Baumstamm am Fluss für 12.30 Uhr reserviert habe – und Civilai doch bitte ausreichend zu essen für sie beide mitbringen möge. Er schloss mit den Worten: »Es ist dringend, also komm mir nicht mit faulen Ausreden.«
Als Nächstes machte Siri im Justizministerium Station, in der Hoffnung, seine Berichte auf Manivones Schreibtisch deponieren zu können, ohne dass ihr Vorgesetzter, Richter Haeng, ihn auf eine kleine »Entlastungsschulung« in sein Büro zitierte. Siri und sein weitaus jüngerer Chef waren sich nicht eben grün. Richter Haeng verlangte blinden Gehorsam, den Siri ihm konsequent verweigerte. Da der amtliche Leichenbeschauer als Einziger im ganzen Land die nötige Qualifikation für seine Arbeit mitbrachte, konnte Haeng ihm schwerlich mit Entlassung drohen. Siri träumte vom Nichtstun, von Ruhe und Frieden. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Haeng ihn getrost auf die Straße setzen dürfen, und der junge Mann wäre seinem Wunsch gewiss mit Freuden nachgekommen. Doch der Richter, der seine dubiose Ausbildung in der Sowjetunion erhalten hatte, wollte unter allen Umständen das Gesicht wahren – und Siri hatte ihn nicht nur einmal bis auf die blanken Schädelknochen blamiert. Außerdem hing seit einer Woche ein weitaus dunklerer Schatten über Haengs Ministerium als der Siris.
Im Juli hatte Laos ein Abkommen über Freundschaft und Zusammenarbeit mit der vietnamesischen Regierung unterzeichnet. Obwohl es vorgeblich der Förderung des Handels und dem Informationsaustausch diente, gab es den Vietnamesen nicht nur grünes Licht zur Stationierung von Militäreinheiten auf laotischem Boden, sondern gestattete es ihnen darüber hinaus, weitreichenden Einfluss auf die laotische Politik zu nehmen. Den laotischen Ministerien waren vietnamesische »Berater« zugewiesen worden, die es sich nicht nehmen ließen, samt ihren Schreibtischen in den Büros der Ministerialdirektoren Quartier zu beziehen. Ebendies war unter anderem im Justizministerium der Fall, und das ging Richter Haeng gehörig gegen den Strich.
Sein Bürogenosse war ein zahnloser Dauerlächler, der das üppig pomadierte Haar streng zurückgekämmt trug, wie ein Leinwandbeau. Obwohl er in einem mehrere Nummern zu großen anthrazitgrauen Anzug steckte und nicht in einer Uniform, bekleidete er in der Vietnamesischen Volksarmee den Rang eines Obersts und besetzte zudem einen Lehrstuhl an der neugegründeten juristischen Fakultät der Universität Hanoi. Zu Haengs Leidwesen sprach und schrieb er hervorragend Laotisch, und dem Abkommen entsprechend mussten alle ein- und ausgehenden Papiere, die über Haengs Schreibtisch wanderten, von Oberst Phat zur Kenntnis und in Augenschein genommen werden. Obwohl sich Phat eines direkten Kommentars bislang enthalten hatte,
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