Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
Vom Netzwerk:
schröckliche Entdeckung. Die Armen in ihren jeweiligen Heimatländern wurden von reichen Großgrundbesitzern ausgepresst, genauer gesagt, von denselben Familien, welche die beiden Knaben in dem Glauben erzogen hatten, es sei völlig normal, sich von einem Diener die Fußnägel schneiden zu lassen. Die Folge dieser Erkenntnis war ein Hass auf die Klasse, der sie angehörten, und eine tiefe Abneigung gegen ihre Väter. Sie verabscheuten sie dafür, dass sie vor den französischen Imperialisten buckelten und sich von den Besatzern mästen ließen, während die Armen Hunger litten.
    Und so begaben sich die beiden zornigen jungen Männer auf die Suche nach einer barmherzigen Doktrin. Im Paris des Jahres 1923 wurden sie fündig. Die Sorbonne war seinerzeit ein Auffangbecken für Liberale und Extremisten jeglicher Couleur. Obwohl ihre Vorlesungen und Seminare vergleichsweise konservativ waren, tummelten sich unter den Studenten zahllose Linke und Radikale. Bei einer Wochenendkundgebung lernten sie einen Vietnamesen kennen, der tagsüber als Hafenarbeiter seine Baguettes verdiente und abends den Marxismus-Leninismus predigte. Er hatte sich ihnen als Nguyen Tat Than vorgestellt. Er war Anfang dreißig, ein schlanker Mann mit hungrigen Augen, der französische Anzüge elegant zu tragen wusste und flammende Reden schwang. Seine Wünsche und Vorstellungen deckten sich so sehr mit den ihren, dass sie sich seinen Traum, den Sozialismus nach Indochina zu exportieren und ihre geknechteten Brüder und Schwestern vom Joch des Kolonialismus zu befreien, schon bald zu eigen machten.
    Vor lauter Idealismus hatte Civilai verdrängt, dass eine der grundlegenden Voraussetzungen für eine erfolgreiche kommunistische Revolution in Laos nicht vorhanden war. Es gab kein aufständisches laotisches Proletariat. Es gab keine Fabriken, deren Belegschaft sich in Gewerkschaften hätte organisieren können, und eigentlich auch keine Arbeiterklasse. Achtzig Prozent der Bevölkerung bauten auf winzigen Parzellen Reis an. Sie kämpften um ihr nacktes Überleben. Die Bauern waren so sehr in ihr Los ergeben, dass es erheblicher Agitation bedurft hätte, um sie davon zu überzeugen, dass sie überhaupt unzufrieden waren.
    Doch als die beiden jungen Männer 1929 nach Asien zurückkehrten, war die Saat der Revolte bei ihnen längst auf fruchtbaren Boden gefallen. Der Kommunismus würde ihre unterdrückten Landsleute erlösen, ob sie wollten oder nicht. In Siam trafen sie von Neuem mit ihrem Guru Nguyen Tat Than zusammen, der inzwischen als Quoc firmierte und sich als buddhistischer Mönch ausgab. Weil er in der vietnamesischen Provinz Agitation betrieben hatte, war er von den Franzosen in Abwesenheit zum Tod verurteilt worden. Quoc war nur eins von vielen Pseudonymen, mit deren Hilfe der bemerkenswerte Mann sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen suchte, doch es war der Name im Ausweis eines verstorbenen chinesischen Händlers, unter dem die Welt ihn schließlich kennenlernen sollte: Ho Chi Minh.
    Civilai und Hok reisten mit Ho nach Hong Kong, wo sie 1930 die Kommunistische Partei Vietnams mitgründeten. Als einzigem Laoten in der Gruppe blieb es Civilai vorbehalten, seine Landsleute dazu zu bringen, sich gegen die französischen Despoten zu erheben und ihr Vaterland zurückzuerobern. Und genau darin lag ein weiteres, schier unlösbares Problem. Laos als geografische Einheit existierte nur, weil ein französischer Verwaltungsbeamter, um sich lästigen Papierkram zu ersparen, eine Grenzlinie um etwa dreißig verschiedene Stammesgebiete gezogen und das Ergebnis offiziell zum Nationalstaat erklärt hatte. Gerade einmal sechzig Prozent der Einwohner dieser blutjungen Baukastenkolonie waren Volkslaoten.
    Das stellte Civilai und seine Kader vor ein Dilemma. Sie wanderten von Dorf zu Dorf und appellierten an den Nationalstolz und die nationale Identität der Bauern. Diese hielten ihnen ganz zu Recht entgegen, dass sie eigentlich gar keine Laoten hatten werden wollen. Warum also sollten sie jetzt für einen Staat kämpfen, der nicht der ihre war? Vielleicht war das der Grund dafür, dass die Revolution in Vietnam so zügig vonstatten gegangen und Civilai über die Jahre so rapide gealtert war.
    Der Regenschauer war schneller vorbei, als sie die Baguettes verzehren konnten. Die beiden von der Politik enttäuschten Weggefährten hatten aufgegessen und saßen still und stumm auf ihrem Baumstamm. Brotkrümel lagen zu ihren Füßen wie Holzspäne um eine Schnitzerei.

Weitere Kostenlose Bücher