Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
wollte ihm doch bloß ein bisschen einheizen, ihm einen kleinen Denkzettel verpassen. Aber dann fing es plötzlich an zu zischen, und er zitterte und zuckte und grinste von einem Ohr zum anderen, als ob es ihm gefallen würde. Ich wusste nicht, was tun. Ich stand wie angewurzelt da und sah zu, wie er verschmorte. Dann war er tot.«
Um 11 Uhr 45 erstattete Tao dem Doktor und dem Gouverneur Bericht. Says Frau wurde festgenommen und nach Pakxe aufs Polizeirevier gebracht. Damit hatte sich der Fall erledigt. Die Sowjetunion war rehabilitiert, der Gouverneur besänftigt, die Witwe von den Dämonen ihrer Schuld befreit, und das alles eine Viertelstunde vor der Mittagspause. So schnell hatte Siri noch keinen Fall abgeschlossen, trotzdem wurmte es ihn ein wenig, dass es ihm nicht vergönnt gewesen war, die Verdächtigen mit Hilfe des Wunders der Daktyloskopie einen nach dem anderen auszuschließen.
9
FREIES LAOS
Siri und Civilai saßen unter der Plane eines ganz besonderen Nudelstandes mit Blick auf den Anleger der Mekong-Fähre. Daeng, die Besitzerin, stand um vier Uhr morgens auf und begann mit den Vorbereitungen für ein perfektes Mittagessen. Doch sie war nicht nur eine Nudelperfektionistin, sondern hatte noch viele andere Pfeile im Köcher.
Als sie am Abend zuvor ins Hotel zurückgekommen waren, hatte Siri sich beim Nachtportier beiläufig nach Madame Daeng erkundigt, auch wenn er sich kaum vorstellen konnte, dass seine alte Freundin nach all den Jahren noch hier sein würde. Darum fand er die Reaktion umso verwunderlicher. Madame Daeng, die Köchin, sei in Pakxe bekannter als Präsident Soupanouvong, hatte der Portier lachend geantwortet und Siri erklärt, wo er sie finden könne, und tatsächlich, da war sie.
Mit ihren scharfen, wachsamen Augen und feingeschnittenen Zügen hatte sie seinerzeit so manchen jungen Mann um den Verstand gebracht. Jetzt machte sie ein so verdutztes Gesicht, dass der Fluss darüber glatt das Fließen zu vergessen schien. Sie warf das Nudelsieb ins kochende Wasser, hoppelte auf rheumasteifen Beinen zu ihrem berühmten Doktor und schloss ihn in die Arme. Siri und Daeng ignorierten die Blicke der verwirrten Gäste und lauschten dem wilden Pochen ihrer Herzen. Ineinander verschlungen wie betende Hände standen sie da und mochten nicht mehr voneinander lassen. Civilai saß auf seinem Hocker hinter dem Nudelkarren und sah ungeduldig auf die Uhr. Die Umarmung dauerte schon über eine Minute, aber für die beiden alten Genossen war es mehr als eine bloße Berührung: ein stummer Austausch über vergangene Jahrzehnte und geschlagene Schlachten, über Menschen, die sie geliebt und doch verloren hatten, über verstorbene Freunde und überstandene Katastrophen.
Siri hatte Daeng vor siebenunddreißig Jahren kennengelernt, in einem Jugendlager im Süden, wo er und seine Frau Boua für die Bewegung Freies Laos gearbeitet hatten. Daeng war ihre Köchin gewesen. Anfangs hatte sie sich mit dieser Aufgabe begnügt, aber schon bald entwickelte die junge Frau eine erstaunliche Energie und Fähigkeiten, die weit über den Wok hinausreichten. Die Laoten hatten die Jugendbewegung 1940 auf Drängen der Franzosen ins Leben gerufen, als Reaktion auf die Bemühungen Thailands, seine Ostgrenze auf laotisches Territorium auszudehnen. Mit ihrer Hilfe wollte man nationalistische Ressentiments gegen die Thais schüren. Als Siri und Boua Ende ’39 von ihrem Studienaufenthalt in Frankreich zurückkehrten, war das Lager in Champasak ihre erste Station. Zwei Jahre lang bildeten sie Ärzte im Praktikum aus, unterrichteten Französisch und formten das Denken und Handeln der jungen Leute. Die Franzosen ahnten nicht, dass die Jugendlager, die sie im ganzen Land errichtet hatten, insgeheim eine raffinierte Strategie verfolgten. In ihnen wurde das Fundament für den Sturz und die Vertreibung der französischen Besatzer gelegt. Aus der Jugendinitiative ging die Lao Issara – die Bewegung Freies Laos – hervor, an deren Gründung Siri und Boua im Süden maßgeblich mitgewirkt hatten.
Als die Franzosen die Jugendlager wegen allzu radikaler Umtriebe schlossen, machte die Lao Issara mobil. Madame Daeng, damals noch Mademoiselle, zog mit den Rebellen umher, kochte, warf die eine oder andere Handgranate und schmiedete am Lagerfeuer emsig subversive Pläne. Sie war eine Inspiration für die jungen Laoten, die sie mit ihren Nudeln aufgepäppelt hatte, und diente Siri und Boua als wichtige Verbündete. Doch in den Wirren des
Weitere Kostenlose Bücher