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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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besonders kultiviert, um nicht zu sagen zivilisiert, halten, ihn schreiben würden wie du.«
    »Zu viel der Ehre, Bruder. Diese Schreibweise hat mir die Schulverwaltung vor meiner Abreise nach Frankreich aufgebürdet. Ich hatte damit nichts zu tun.«
    »Wenn du es sagst. Aber wie dem auch sei, der Franzose war jedenfalls der Ansicht, dass deine Initialen unter gewissen Umständen – zum Beispiel, wenn ein Laote, der seine Ausbildung in Amerika genossen hat, einen laotischen Namen ins Englische transkribiert – ebensogut SS lauten könnten.«
    »Ist es jetzt endlich genug?«
    »Dtui hatte uns mit ihrer Übersetzung von 2PM auf die falsche Fährte gelockt. Sie hielt das Kürzel für eine Zeitangabe, und das schien uns so plausibel, dass wir uns weiter keine Gedanken darüber machten. Der Franzose wies mich darauf hin, dass ›PM‹ auch für Premierminister stehen könnte. Premierminister Nummer zwei. In der illegitimen Regierung warst du für das Amt des stellvertretenden Premierministers vorgesehen.«
    »Und?«
    »Und damit komme ich auf meine Ausgangsfrage zurück. Was hast du dir dabei gedacht? Mehr noch, wie konntest du dich überhaupt auf ein solches Unterfangen einlassen, ohne mich vorher um Rat zu fragen? Ich bin dein bester Freund, verdammt noch mal. Ich hätte dir ins Gewissen reden können. Was steckt dahinter, Erpressung? Haben sie deine Familie bedroht?«
    Civilai schloss seine feuchten Augen und ließ den Kopf auf die Sessellehne sinken.
    »Nein.«
    »Aber irgendetwas müssen sie doch gegen dich in der Hand haben?«
    »Was machen wir, wenn wir zusammen sind, Siri?«
    »Ich geb’s auf.«
    »Worüber reden wir in den lichten Momenten unseres trunkenen Beisammenseins?«
    »Ich …«
    »Ich will es dir sagen. Achtzig Prozent unserer Gespräche drehen sich um die Unzulänglichkeit unserer Regierung, der Regierung, für deren Einsetzung wir dreißig Jahre lang gekämpft haben.«
    »Das ist doch …«
    »Der Regierung, die aus den dummen Fehlern ihrer Vorgänger hätte lernen müssen. Stattdessen haben wir dem Unvermögen lediglich einen neuen Anstrich und einen kreativen Dreh verpasst. Wir sind ein sozialistischer Staat, und der Sozialismus ist bekanntlich die Schaffung der materiellen Grundlagen des Kommunismus unter der Diktatur des Proletariats. Das mussten wir damals auswendig lernen, weißt du noch? Tja, von wegen Diktatur des Proletariats. Die Menschen leiden wie eh und je.«
    »Das ist nicht wahr.«
    »Doch, und das weißt du genauso gut wie ich. Nach unseren philosophischen Sitzungen gehe ich jedesmal in der festen Überzeugung nach Hause, dass alles, was wir auf die Beine gestellt haben, ein schlechter Witz ist. Manchmal schließe ich mich nachts auf der Toilette ein und weine mir die Augen aus, weil ich in dieser Schmierenkomödie eine nicht unwesentliche Rolle gespielt habe. Ich stand ganz oben auf der Parteiliste und habe nicht das Geringste dazu beigetragen, die Verhältnisse zu ändern.«
    »Du hast es immerhin versucht.«
    Civilai öffnete die Augen. Im Halbdunkel waren sie weiter nichts als dunkle Höhlen. »Wenn ich es versucht hätte – wenn ich es ernsthaft versucht hätte«, sagte er, »dann hätte sich etwas verändert. Gut, ich habe hier und da den Mund aufgemacht und ein paar Altherrengranteleien losgelassen, aber das hat niemanden interessiert. Heute bin ich machtlos. Ich habe nur noch Symbolwert, wie ein Kultgegenstand oder ein Toter. Unsere Gespräche waren mir vor allem deshalb so unerträglich, weil jedes Wort davon wahr war. Hätten sie auf uns gehört, wäre uns dieser Schlamassel erspart geblieben.«
    »Das denken alle alten Knacker auf dieser Welt«, sagte Siri. »In jeder Londoner Kneipe hocken zwei Dreiundsiebzigjährige wie wir, die davon überzeugt sind, für sämtliche Probleme der Menschheit eine Lösung parat zu haben.«
    Civilai schüttelte den Kopf. »Aber die sitzen nicht im Politbüro des Zentralkomitees. Selbst wenn sie wollten, könnten sie nichts ausrichten. Ich schon. Die frustrierten Politiker und Militärs haben mich kontaktiert. Sie brauchten einen hochrangigen Funktionär, der in der Bevölkerung hohes Ansehen genießt und für Wandel, Modernität und Freiheit steht. Es war, als hätten sie mich im Schlaf reden hören. Sie wussten, dass ich unberechenbar war, unzufrieden und verbittert. Ich sagte: ›Einverstanden, schlimmer kann es ohnehin nicht werden.‹ Und damit war es beschlossene Sache. Phetsarat sollte Premierminister werden und ich sein

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