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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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lebenswerter hätte gestalten können. Er hatte niemanden, dem er sein Erbe weitergeben konnte.
    »Wie traurig«, sagte die Mutter. »Was kann ich für Sie tun? Abgesehen von der weißen, nicht gummierten Briefmarke.«
    Vom Postamt aus fuhr er rasch zu Sings Schule, um Mim von dem Bild zu erzählen, das ihr Freund für sie gezeichnet hatte; er hatte bis zum letzten Augenblick an sie gedacht. Es folgten ein Abstecher ins Rathaus, ein Zwischenstopp auf dem Polizeirevier zwecks Unterzeichnung der Zeugenaussage, ein kurzer Aufenthalt im Krankenhaus, wo er seinen Morphiumpegel auffrischen ließ, und ein Besuch beim städtischen Radiosender. Seine letzte Rikschafahrt führte ihn an der Pädagogischen Hochschule vorbei zu einem Haus, das er erst nach fast einstündiger Suche entdeckte. Was er dort erfuhr, raubte ihm die letzte Hoffnung. Ihm kam ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest in den Sinn: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« Bis heute hatte er es nie wirklich verstanden. Ihn befiel ein äußerst ungutes Gefühl, und mürrisch trat er die Rückfahrt an. Der Himmel ähnelte einem pflaumenfarbenen Plumpudding, der seine Füllung über den nervösen Stadtbewohnern auszuschütten drohte.
    Um eins war Siri wieder im Hotel. Dtui und Phosy saßen in der Halle. Er atmete tief durch und versuchte sein Bestes, sich seine Trübsal nicht anmerken zu lassen.
    »Hallo, Kinder«, sagte er, doch seine Maskerade hatte anscheinend nicht die gewünschte Wirkung.
    »Sie sehen ja so niedergeschlagen aus, Doc«, sagte Dtui.
    »Das macht die Schwerkraft. Ab einem gewissen Alter zieht sie die Gesichtszüge erdwärts. Um fröhlich auszusehen muss man sich schon auf den Kopf stellen. Soll ich’s mal vormachen?«
    »Jetzt nicht«, sagte Phosy. »Wir haben gerade zu Mittag gegessen.«
    »Auch wenn sich das undefinierbare Etwas auf meinem Teller nur mit reichlich Fantasie als Essen deuten ließ«, setzte Dtui hinzu.
    »Je nun«, sagte Siri. Leider blieb keine Zeit, das holde Paar mit Daengs Nudelstand vertraut zu machen. »Habt ihr Onkel Civilai gesehen?«
    »Der liegt vermutlich noch im Bett«, sagte Dtui. »Er hatte keinen Hunger. Ich habe das dumpfe Gefühl, die nächtliche Sitzung fordert ihren Tribut. Er hat sein Zimmer den ganzen Tag noch nicht verlassen.«
    »Dann hämmere ich mal eben ein halbes Stündchen an seine Tür.«
    »Da geht es ihm bestimmt gleich besser«, sagte Dtui lachend. »Erinnern Sie ihn daran, dass wir um halb fünf am Flughafen sein müssen.«
    »Wird gemacht.«
    Siri kletterte langsam in den ersten Stock hinauf. Vor Civilais Tür blieb er erst einmal stehen und verschnaufte. Pakxe würde ihn noch das Leben kosten. Er drückte die Klinke. Die Tür war unverschlossen. Sie öffnete sich knarrend, und er trat ein. Civilai saß noch immer in demselben Sessel, jetzt mit dem Gesicht zum Fenster. Er starrte zu den bläulich-violetten Wolken hinauf, die das Zimmer mitten am Tag in abendliches Halbdunkel tauchten.
    »Soll ich das Licht anmachen?«, fragte Siri.
    »Der Strom ist mal wieder weg«, sagte Civilai, ohne sich umzudrehen. »Wir haben zwar ein Wasserkraftwerk, das einhundertfünfzig Megawatt Elektrizität produziert, sind aber nicht in der Lage, das Land mit Licht zu versorgen. Ich hoffe, der Kerl, der den Hebel umlegt, erfreut sich inzwischen an einem unserer beliebten Seminare.«
    »Das Telefon unten in der Halle funktioniert noch nicht mal, wenn es Strom gibt«, sagte Siri. Er ließ sich in den anderen Korbsessel nieder und beobachtete dieselben Wolken, die sich in beängstigendem Tempo kohlrabenschwarz verfärbten. »Was vermutlich ziemlich lästig war, wo du doch ständig mit Vientiane telefonieren musstest.«
    Civilai warf ihm einen wütenden Blick zu. »Darauf habe ich nur gewartet. Bei mir brauchst du nicht den Inspektor Maigret zu spielen. Bei mir nicht.«
    »Was soll das heißen?«
    »Was das heißen soll? Wolltest du nicht gerade so etwas sagen wie: ›Immerhin hat dich das Hin-und-her-Gerenne zwischen Hotel und Post bei Laune und auf Trab gehalten‹?«
    »Mir wäre bestimmt etwas Witzigeres eingefallen, aber ja, so etwas in der Richtung.«
    »Und dann sage ich: ›Stimmt, ich hätte mir ein Zimmer über dem Postamt nehmen sollen‹, und du springst auf und rufst: ›Ha, erwischt!‹ Stimmt’s?«
    »Ja.«
    »Du warst überall, wo es

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