Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
bewunderte ihr Geschick.
Nach ein paar Minuten bemerkte sie ihn.
»Bruder Siri, was machst du denn hier?« Sämtliche Gäste blickten auf und musterten den derangierten alten Mann. »Und was, um alles in der Welt, hast du getrieben? Nein, sag nichts. Wie man hört, bist du heute Morgen um drei durch die Straßen geirrt und hast mein Schlafzimmer gesucht.« Was die Gäste mit spöttischem Beifall quittierten. Siri lief vor Scham rot an. Es gab tatsächlich nichts, was diese Frau nicht wusste.
Als er sich schließlich zum Karren geschleppt hatte, war ihm noch immer keine geistreiche Entgegnung eingefallen. Stattdessen drückte er ihr zärtlich den Arm und flüsterte ihr ins Ohr, der Putsch sei vereitelt. Das wusste sie offensichtlich auch schon.
»Ja, gute Neuigkeiten, nicht?«, sagte sie. Ihre Begeisterung schien sich in ebenso engen Grenzen zu halten wie die seine. Vielleicht war ihr nach all den Jahren aber auch einfach nicht mehr nach Feiern zumute. Ohne zu erröten, erzählte Daeng den Leuten in der Schlange, Siri sei die große Liebe ihres Lebens, und sie hätten doch gewiss nichts dagegen, wenn er sich ausnahmsweise vordrängelte? Natürlich hatte niemand etwas einzuwenden. Die Liebe besiegt alles. Er bestellte die Spezialität des Hauses, die im Grunde nichts anderes war als das Übliche plus fünfzig Prozent mehr von allem. Als sie ihm die riesige dampfende Schüssel reichte, sagte sie: »Du fliegst heute nach Vientiane zurück.« Es war keine Frage.
»Um fünf.«
»Ich muss vorher unbedingt noch einmal mit dir sprechen. So gegen zwei? Dann ist der Mittagsansturm vorbei.«
»Soll ich hierherkommen?«
»Nein, ich komme ins Hotel. Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen und möchte dir etwas zeigen.«
Siri setzte sich mit seinem Frühstück, seinem Löffel und seinen vietnamesischen Essstäbchen ans Ufer, ließ wie ein Kind die Beine ins Wasser baumeln und schlug sich den Bauch voll. Es war herrlich. Er warf einen Blick über die Schulter und streckte Daeng seine erhobenen Daumen hin. Er konnte sich nicht entsinnen, je ein so köstliches Frühstück verspeist zu haben, und wenn es ums Essen ging, hatte sein Gedächtnis ihn noch nie im Stich gelassen. Es machte den Kopf frei, beruhigte den Magen und setzte seinen rostigen Denkmechanismus in Gang. Seit vierundzwanzig Stunden beschäftigte ihn ein seltsamer Gedanke oder, besser, ein bloßer Verdacht. Er war so absurd, dass Siri sich die größte Mühe gegeben hatte, ihn zu verdrängen, doch er ließ und ließ ihm keine Ruhe. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Neugier zu befriedigen.
21
ALLES STÄNDISCHE UND STEHENDE
Das Bureau de Poste öffnete um acht. Er war der erste Kunde. Ein kleines Mädchen bewachte den Schalter, während seine Mutter Briefe in die Postfächer sortierte. Siri ignorierte die Frau und trat vor das Mädchen hin.
»Bist du die Postvorsteherin?«, fragte er.
»Nein«, antwortete das Mädchen. »Ich bin fünf.«
Die Mutter sah lächelnd zu ihnen herüber. »Sie hat heute keine Schule.«
Siri sprach weiter mit dem Mädchen. »Ich hätte gern eine Briefmarke.« Die Kleine war entzückt.
»Ja, Großvater. Welche Farbe?«
»Wie viel kostet eine grüne?«
»Zwei Kip.«
»Oje. Ich habe aber nur einen halben Kip.« Er zog einen gefalteten Ein-Kip-Schein aus der Tasche. Seit der letzten Abwertung dienten die Scheine als Glücksbringer bei Hochzeiten und anderen Festen, denn für einen Kip bekam man nicht einmal mehr einen warmen Händedruck.
»Dann müssen Sie eine weiße nehmen«, sagte das Mädchen. Sie nahm den Geldschein entgegen und tat, als suche sie in der Schublade nach Marken.
»Und sie darf auf keinen Fall gummiert sein«, setzte Siri hinzu. Das Mädchen reichte ihm einen Fetzen Papier, den sie von einem Telegrammformular abgerissen hatte. »Perfekt. Dankeschön.«
Die Mutter kehrte lachend auf ihren Hocker am Schalter zurück.
»Ich wette, Sie haben einen ganzen Stall voller Enkelkinder«, sagte sie.
Er versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. »Leider nein, nicht ein einziges.« Er dachte an das alte Lied, das Boua ihm immer und immer wieder gesungen hatte, wie eine zerkratzte Schallplatte: »Wir haben ein Volk zu retten, Siri. Es wäre egoistisch, wenn wir uns nur um unsere eigenen Kinder kümmern würden.«
Er hatte sich immer eine Familie gewünscht. Sie hatte davon nichts wissen wollen. Und vielleicht war genau das sein Problem: Er hatte weder Kinder noch Kindeskinder, für die er sein Land
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