Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Wichtiges mitteilen, aber wie es scheint, weißt du bereits Bescheid.«
»Wie kommst du darauf?«
»Nun ja, erstens sieht dein Gesicht aus, als hätte man es über eine Opferschale gehalten und ausbluten lassen, und zweitens wolltest du eben in einen Wolkenbruch hinaus, in dem man glatt ertrinken könnte. Mit anderen Worten, du hast dem Teufel ins Gesicht geschaut. Ich nehme an, du kommst gerade vom Genossen Civilai.«
»Welche Farbe hat meine Unterwäsche?«
»Wie bitte?«
»Du scheinst doch sonst alles zu wissen.«
»Lass deinen Ärger nicht an mir aus, Siri. Ich kann nichts dafür.«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Wolltest du mir von Civilai erzählen?«
»Ja.«
»Ich glaube, ich möchte jetzt nicht darüber sprechen.«
Sie nahm seine Hand. »Verstehe. Das macht nichts. Ich habe etwas viel Besseres mitgebracht als schlechte Neuigkeiten. Komm.«
Sie führte ihn zu einem von einem Windlicht erhellten Tisch, wo ihr Stoffbeutel auf einem Stuhl lag. Der Wind, der durch die Ritzen der Fensterläden fegte, brachte die Flamme in ihrem Glasbehälter zum Tanzen. Die Empfangsdame wischte das Wasser auf, das mit der Bö hereingeweht war. Der Sturm tobte so heftig, als wollte er das Hotel mit sich reißen und um die halbe Welt tragen. Damit sie keine nassen Füße bekamen, knieten sich die alten Kampfgenossen auf die Plastikstühle. Daeng griff in ihren Beutel und zog ein Album daraus hervor. Vorsichtig, als sei es kostbar oder zerbrechlich, legte sie es auf den nackten Holztisch und schlug die erste Seite auf. Es war ein anstrengender Tag für Siris Herz gewesen, doch was er jetzt im trüben Kerzenschein erblickte, ließ es ihm fast stillstehen.
Lager Champasak – 1940
»Woher in aller Welt …?«, fragte er.
»Du erinnerst dich wohl nicht mehr an den Fotografen, Siri? Ein junger Bursche, der sein Handwerk in Marseille gelernt hatte. Die französische Regierung hatte ihn in den Süden geschickt, um zu dokumentieren, was in den Lagern vor sich ging. Damit sie beweisen konnte, dass sie etwas für das Seelenheil der örtlichen Jugend tat.«
»Doch, ich erinnere mich. So ein dürrer Knabe aus Xieng Khuan.«
»Genau.«
»Aber diese Bilder haben wir nie zu sehen bekommen. Wie lange war er bei uns – ein halbes Jahr? Und dann nahm er die belichteten Filme mit nach Vientiane.«
»Er hatte versprochen, mir Abzüge zu schicken.«
»Wenn ich mich recht entsinne, hatte er ein Auge auf dich geworfen.«
»Hatten das nicht alle? Alle bis auf einen, meine ich.« Siri spürte, dass ihr Blick auf ihm ruhte, starrte jedoch weiter auf die erste Seite. »Und zu meinem Erstaunen«, fuhr sie fort, »hat er Wort gehalten. Er hat sich damit zwar reichlich Zeit gelassen, aber vor etwa fünfzehn Jahren bekam ich plötzlich Besuch.«
»Von dem dürren Knaben.«
»Inzwischen war er ein dürrer Mann in den besten Jahren. Er war nach Frankreich ausgewandert, hatte geheiratet und so weiter und so fort. Aber als er beschloss, nach Laos zurückzukehren, machte er mir einen Satz Abzüge und brachte sie mir mit.«
»Ich hoffe, du hast dich artig bei ihm bedankt.«
»Das war ja wohl das Mindeste. Schließlich hatte er mir das schönste Geschenk gemacht, das sich eine Frau nur wünschen kann.«
Sie blätterte um, und als er die ersten Fotos sah, schlugen Siris Gedanken elf Purzelbäume zurück ins Jahr 1940. Hier stand er mit seiner Klasse, B5, alle waren mindestens einen Kopf größer als Siri, und alle strahlten wie Eidechsen, die sich den Bauch mit Ameisen vollgeschlagen hatten. Da stand er an einer Tafel, sein rabenschwarzes Haar vor dem schwarzen Hintergrund kaum zu erkennen, sein tailliertes Hemd so eng, dass sich seine Muskeln darunter abzeichneten. Und dort saß er ins Gespräch vertieft an einem Lagerfeuer, der Flammenschein erhellte sein Gesicht, und seine Augen brannten vor Leidenschaft.
»Himmel«, sagte er. »Ich war ein Bild von einem Mann.«
»Ohne Frage«, bekräftigte sie.
Er blätterte weiter. Da war er – und sie: Siri und Boua. An einem Klapptisch sitzend, besprachen sie den Stundenplan. Er lächelnd; sie ernst, jung, wunderschön – lebendig. Bei ihrem Anblick begann sein Puls zu rasen.
»Ihr wart ein hübsches Paar.«
Siri brachte es nicht über sich weiterzublättern. »Wir hatten Fotos«, sagte er. »Teils aus Frankreich, teils aus Hanoi, hauptsächlich Atelieraufnahmen. Aber die sind entweder verloren gegangen oder den Naturgewalten zum Opfer gefallen. Ich habe seit – ich weiß auch nicht – zwanzig
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