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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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verlorengegangen. Die Leute reisen nicht mehr, die Leute fahren nur noch hin und her.
    Es ist natürlich überflüssig zu sagen, daß das in noch höherem Maß für die Großnasen gilt, denen es durch ihre A-tao noch viel einfacher gemacht wird als durch Pferd und Wagen, achtlos durch die Welt zu fahren. Aber insofern ist hier ein Punkt, wo ich sagen muß: vielleicht ist unsere Welt nicht ganz unschuldig an dem, was sich hier – also: in der Zukunft – an unsinnigen Dingen abspielt. Wie viel haben unsere großen Philosophen der Vergangenheit über die Entstehung der Kultur nachgedacht, ob der Mensch von Natur aus gut ist, wie Meng-tzu behauptet, oder schlecht, wie Hsün-tzu postuliert, ob die alten, weisen Könige die Kultur eingeführt haben oder ob sie wie eine Flechte auf einem Stein von allein entstanden ist. Die Fragen werden wir nie beantworten können, es sei denn, ich entschließe mich eines Tages, mittels meines Zeit-Reise-Kompasses rückwärts zweitausend oder dreitausend Jahre in die Vergangenheit bis auf die Zeit der Kaiser Yao oder Shun zu fahren. Aber ich glaube, daß ich, wenn ich im Frühjahr zurückkehre, genug vom Zeit-Reisen habe. Außerdem – wer weiß, ob ich da nicht noch mehr enttäuscht sein werde und womöglich feststellen muß, daß Yao und Shun – ihr Ehrwürdiges Andenken dauere zehntausend Generationen – nichts anderes als ungehobelte Klötze waren. Aber das wollte ich nicht sagen – ich meine: wieviel haben unsere Weisen vom Großen K’ung-fu-tzu bis zum spitzfindigen Kung Sun-ling darüber nachgedacht und sind zu keinem einheitlichen Ergebnis gelangt. Aber es sei dem, wie ihm wolle, klar scheint mir zu sein, daß von dem Augenblick an, wo die erste Flechte der Kultur sich am Stein der Menschheit gezeigt hat, der weitere Prozeß unaufhaltsam war. Warum läßt sich dieser Prozeß nicht rückwärts rollen? Das weiß niemand. Vielleicht ist es schlichtweg so, wie es eben so ist, daß die Flüsse abwärts fließen, vom Berg zum Meer und nicht umgekehrt. Es ist eben so, und kein Mensch kennt den Grund. Übrigens wissen es die Großnasen auch nicht; ich habe mich bei Herrn Yü-len-tzu erkundigt. Er sagt: man wisse in seiner Welt viel, und verstieg sich zu der Behauptung: mehr als in allen früheren Welten und Zeiten, aber was das für eine Kraft sei, die bewirke, daß ein Stein auf die Erde falle, das habe noch keiner ergründen können.
    So scheint der einmal begonnene Prozeß, der die Menschheit (wobei ich nicht nur das Volk im Reich der Mitte meine) vom unproblematischen Urzustand bis zur Herrschaft des reinen Unsinns führt – der hier bei den Großnasen schon fast erreicht ist –, unaufhaltsam und unabwendbar. Vielleicht ist es so, daß der Mensch zwar von Natur aus nicht böse und schlecht ist, wie Hsün-tzu meint, aber ein Hang zur Ausbreitung der Dummheit in ihm wohnt, der bewirkt, daß er Unfug hervorbringt, wie der Baum Blätter treibt.
    Das alles ist dunkel, und je mehr ich darüber nachdenke, desto dunkler erscheint es mir. Ob das menschliche Leben auf dieser Kugel-Welt überhaupt einen Sinn hat? Herr Me-lon, der Richter, mit dem ich gern über solche Dinge spreche, sagt, daß man sich zunehmend scheut, darüber nachzudenken. Die Großnasen erforschen alles mögliche und denken über ungeahnte Dinge nach, und für alles und jedes gibt es staatlich geprüfte Spezialisten. Aber sie hüten sich, über das Detail hinauszugehen. Die Großnasen-Welt ist eine Welt der Details. –
    Dies hier ist wieder ein kurzer Brief. Viel werde ich Dir ohnedies nicht mehr schreiben. Ich kehre bald zurück, und dann kann ich Dir alles erzählen, das ist besser und anschaulicher. Ich freue mich schon darauf, wenn wir an vielen schönen Nachmittagen im Park Deines Hauses oder meines Hauses sitzen, in bequemer Kleidung, von einem feinen kalten Hund, mit Essigfleischmus gefüllt, naschen, und ich Dir dann von dieser kuriosen Welt berichte. Und meine sanfte Shiao-shiao liegt auf meinem Schoß. So schließe ich diesen kurzen Brief. Bitte, warte in der nächsten Zeit nicht auf den nächsten. Der wird zehn oder sogar fünfzehn Tage auf sich warten lassen. Ich verreise (!) mit Frau Pao-leng. Wir fahren mit ihrem A-tao-Wagen ins Gebirge, obwohl Winter ist. Das ist weit, weit weg vom Kontaktpunkt. Schreibe mir bitte auch Du keine Briefe, die ja in der Zeit nur am Kontaktpunkt ungeschützt herumliegen und womöglich gestohlen würden.
    Wegen des Tricks mit den weißen Bällen kann ich Dir wirklich nicht

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