Briefe in die chinesische Vergangenheit
der Fern-Blick-Maschine singen, das Gesicht verziehen. Sehr häufig wird im Fern-Blick-Fenster aber gezeigt, welche Gegenstände man demnächst in den Läden kaufen soll. Man ist aber, habe ich mich erkundigt, nicht verpflichtet, sich danach zu richten.
Zu bestimmten Zeiten erscheint im Fern-Blick-Fenster eine Großnase, die liest von gelben Blättern ab, welche Katastrophen in den letzten Stunden in der Welt vorgefallen sind, und regelmäßig kommt danach einer, der erklärt, daß das Wetter schlechter wird. Aber das alles ist nicht das Schlimmste in der Fern-Blick-Maschine. Ich habe mir die Zusammenhänge mehrfach erklären lassen, denn dieses Fernblicken ist einer der wichtigsten Faktoren im Leben der Großnasen. Die lebenden, bunten Bilder, die einem da vorgegaukelt werden, sind so natürlich, daß man sie – und ich habe es anfangs getan und bin erschrocken – für wahr hält, das heißt: für wirklich. Das sind sie aber nicht alle. Zwar ist die Großnase, die kommt und von einem gelben Blatt abliest, daß ein Schiff gesunken ist, oder die Großnase, die verkündet, daß es morgen mehr regnen wird als heute, wirklich. Auch die Großnase, die das von sich gibt, was sie als Gesang versteht, ist wirklich, nicht aber sind es die Großnasen, die nachher kommen und zwei Stunden lang aufeinander losreden, einander beschimpfen und umbringen. Die sind unwirklich, das heißt: die tun nur so. Das ist ein – manchmal, muß ich zugeben – sehr geschickt gestelltes Schauspiel. Ich (obwohl, oder vielleicht: gerade weil von so fern kommend) durchschaue das, nicht aber die Mehrzahl der dumpfen Großnasen, die in ihre Fern-Blick-Maschine glotzt und alles für bare Münze nimmt, was sie sieht. So nimmt die Mehrzahl der Großnasen die Realität nicht mehr wahr und ersetzt die Wahrnehmung durch das, was sie aus der Fern-Blick-Maschine erfährt.
Und es sitzt, habe ich mir sagen lassen, die Mehrzahl der Großnasen jede freie Minute, sofern sie eben nicht mit ihrer Arbeit beschäftigt ist, vor der Fern-Blick-Maschine.
Ich halte das für nur folgerichtig. Nachdem sie den Sinn ihres Lebens und ihrer Geschichte darin erblicken, ständig von sich fortzuschreiten, ist es klar, daß sie auch nichts lieber tun, als von sich fortzublicken. –
In einem meiner letzten Briefe habe ich versprochen, von den Musik-Tellern zu erzählen. Das Phänomen gehört zur Sucht der Großnasen, alles zu vervielfältigen, die im Grunde genommen auch das Fern-Blicken bewirkt, denn wie es sich dort um die unendliche Vervielfältigung eines – und sei es noch so unerfreulichen – Bildes handelt, handelt es sich hier beim Musik-Teller um die Vervielfältigung eines Musikstückes. Du mußt Dir einen sehr flachen, dünnen, schwarzen Teller vorstellen, den legst Du vorsichtig in eine eigens dafür bestimmte Maschine (die nicht schwer zu bedienen ist), drückst auf einige Knöpfe – das Drücken von Knöpfen hat bei den Großnasen mehr Bedeutung als die Fortpflanzung–, und schon ertönt aus der Maschine die schönste Musik, nicht schneller und nicht langsamer, als wenn sie von Musikern gespielt würde, wenn die sich im Raum befänden. So komisch das ist und so symptomatisch für die Welt der Großnasen, so hat es doch ein Gutes, denn Du bist ohne weiteres in der Lage, jede Musik zu spielen, die Du Dir wünschst, ohne ein Orchester bezahlen zu müssen. Ich habe mir so einen Apparat gekauft (gesehen habe ich den ersten bei Herrn Shi-shmi), nachdem ich neulich in der öffentlichen Musikdarbietung war, und habe ihn hier in meinem Hong-tel-Zimmer aufgestellt. Ich höre die beiden Musikstücke, die damals gespielt wurden, sehr oft und versuche in ihren Sinn einzudringen. Auch die Stücke von We-to-feng höre ich gern.
Vor einigen Tagen war ich in einer Musikdarbietung ganz anderer Art. Auch da hat Herr Shi-shmi mich mitgenommen. Er hat mich im Hong-tel abgeholt und gesagt, es werde eine große Überraschung für mich.
Wir gingen in ein großes Haus, dessen Front mit hohen Säulen geschmückt war. Viele Großnasen gingen drinnen herum. Das Haus war ganz anders als das Hong-tel. Ich hatte den Eindruck eines Tempels, und als ich das Herrn Shi-shmi sagte, lachte er und erwiderte, daß das Haus mitunter tatsächlich: »Tempel der Göttinnen der Kunst« genannt würde. Wir spazierten ein wenig auf Gängen und Stiegen herum, dann ertönte ein schriller, metallischer Ton, und wir begaben uns in den, wie ich da bemerkte, eigentlichen Kern des Hauses. Der nun wieder
Weitere Kostenlose Bücher