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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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erinnerte mich eher an den Saal, in dem die große öffentliche Musikdarbietung stattgefunden hatte, und in der Tat saßen weiter unten (diesmal ziemlich verdeckt) verschiedene Musiker und stimmten mit unschönen Tönen ihre Instrumente. Hunderte von Stühlen standen unten, weitere Stühle standen auf – wenn ich richtig gezählt habe – fünf oder sechs Reihen Balkonen, die sich nicht wie bei sonstigen Häusern außen, sondern innen um die Wände herumzogen. Mehr oder weniger eilig nahmen nun die Leute Platz. Alle schauten – so waren die Stühle angeordnet – in eine Richtung. Wir saßen auf dem ersten Balkon, von unten gezählt.
    Das Licht wurde schwächer, dann erlosch es ganz. Die Leute klatschten wieder in die Hände. Als ich Herrn Shi-shmi um eine Erklärung bat, lächelte er und sagte, ich würde gleich sehen. Aber ich sah zunächst gar nichts. Die Musiker spielten ein kurzes Musikstück, das mir nicht sehr viel sagte – sie spielten es bei fast vollkommener Dunkelheit. Dann aber geschah es, daß ein riesiger Vorhang, dem ich vorher gar keine Beachtung geschenkt hatte, sich hob und einen weiteren, hell erleuchteten Raum freigab, in dem nach und nach … ich weiß es nicht, wie ich das sagen soll: verschiedene Bilder aufgebaut waren. Kurzum: es war eine Tanz- und Gesangsdarbietung, wurde von lebendigen Leuten (Weibern und Männern) unternommen, die, wie ich erfuhr, eigens zu diesem Beruf ausgebildet und dafür bezahlt werden. Es sind Schauspieler, und die Darbietung hatte entfernte Ähnlichkeit mit einer Theaterdarstellung, wie wir sie kennen.
    Sie hatte weder rituellen noch allegorischen Charakter, sondern sozusagen illustrierenden. Es ist nicht so wie bei uns, wo die Sänger und Tänzer in Tönen, Mienen und Gesten andeuten, was dann jeder versteht und weiß – es ist alles ganz direkt und soll die Illusion wirklichen Lebens erwecken. Das ist sehr komisch, denn die Leute in dem hell erleuchteten Raum tun so, als ob sie nicht sähen, daß da tausend Großnasen im Dunkeln sitzen und zuschauen. Wenn einer dort drin sagt: es leuchtet der Mond, dann taucht tatsächlich der Mond auf, und alles ist in fahles Licht getaucht, daß man im ersten Augenblick meinte, man sähe durch ein großes Fenster in eine andere Gegend; wenn einer sagt: er gehe jetzt in ein Haus, dann steht die Imitation eines Hauses da. Dazwischen allerdings singen sie unvermittelt, manchmal allein, manchmal im Chor, immer vom Orchester begleitet.
    Das Ganze sollte, aber das habe ich erst verstanden, als Herr Shi-shmi es mir erklärte, eine natürlich dargestellte Ballade sein. Es hängt wohl damit zusammen, daß ich den Text der Lieder kaum verstand: der Sinn der Ballade war mir verschlossen. Offenbar ging es darum, daß eine Frau in ein fernes Land kam und dort einen hochgestellten Herrn heiratete, den sie dann wieder verließ (oder er sie). Dazwischen wurden auch Späße gemacht, über die die Großnasen ganz laut lachten; dennoch taten die Leute vorn weiterhin so, als ob sie es nicht bemerkten.
    Nach etwa zwei Stunden schloß sich der Vorhang wieder, und die Leute klatschten in die Hände. Es wurde hell im Haus, und nun begab sich das Merkwürdigste: die Frau und der hochgestellte Herr und alle von vorhin schlüpften durch den Vorhang nach vorn, und nun gaben sie unverhohlen zu erkennen, daß sie sehr wohl wußten, was da an Großnasen saß und die ganze Zeit zugeschaut hatte. Sie verbeugten sich mehrfach.
    Die Kleider, die diese Leute trugen, waren ganz anders, als die übliche Bekleidung der Großnasen. Ich wunderte mich, daß mir noch nie so einer auf der Straße begegnet war, aber Herr Shi-shmi lachte und sagte: das sei nur Verkleidung. Jetzt gingen die Damen und Herren nach hinten in einen anderen Teil des Hauses, legten die bunten Gewänder ab, zögen alltägliche Kleider an und gingen nach Hause.
    Das taten auch wir – das heißt: erst begaben wir uns noch in ein öffentliches Speisehaus, um zu essen. Herr Shi-shmi fragte mich, und ich merkte schon an seinem Gesicht und seiner Stimme, daß er einen Hintergedanken hegte: wie es mir gefallen habe? Nun ja, sagte ich, es sei interessant gewesen. Ob mir nichts aufgefallen sei? Vieles, sagte ich, sei mir aufgefallen … Nein, meinte er, ob mir nichts Spezielles aufgefallen sei? Ob mir nichts bekannt vorgekommen sei? Nein, sagte ich.
    Herr Shi-shmi lachte. Auch von dieser vorgeführten Ballade kennt man den Verfasser. Er hat Le-ha geheißen und ist vor etwa vierzig Jahren gestorben. Die

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