Briefe in die chinesische Vergangenheit
oder, um es ganz ehrlich zu sagen: obwohl diese sanften ersten Töne des großen Meisters We-to-feng es mir unmöglich machten, weiter an meinem Vorurteil festzuhalten, erschien mir doch die Musik zunächst wie unvollständig, wie willkürlich durchlöchert, auch unfaßbar ungenau und natürlich verwirrend. Aber noch im Lauf dieses ersten – nach unseren Begriffen sehr kurzen – Satzes, ergriff mich doch der Zauber der einen oder anderen Passage, bald schon erkannte ich die Wiederkehr einer Melodie, und als der Satz mit einer leise beginnenden, raunenden, dann wie ein gläserner Frühlingswind flirrenden Passage endete, war ich für die Musik des großen Meisters We-to-feng und damit möglicherweise überhaupt für die Musik der Großnasen gewonnen.
Es folgte dann ein Satz in durchgehend rascher Bewegung, mehrmals durch eine sehr süße, hohe Melodie unterbrochen, die nicht anders denn als Gesang eines Zaubervogels in einem Kristallwald bezeichnet werden kann. Mit diesem Zaubergesang endete der sehr kurze Satz. Dann folgte ein weiterer, etwas längerer Satz, von dem mir Herr Shi-shmi später sagte, daß da niemand von mir sofortiges Verständnis erwarten könne. Der Satz hieße: ›Heilige Danksagung eines Genesenden an die Gottheit‹ und sei vielleicht das Kostbarste, was je ein Meister der Musik der Großnasen geschrieben habe. Er sei so zu betrachten wie gewisse verschlüsselte Kapitel einer heiligen Schrift, deren Sinn erst mit langer und ehrfürchtiger Betrachtung, der man wohl sein ganzes Leben widmen müsse, zu begreifen sei. Er selber, Shi-shmi, habe diesen Satz mit seinen Freunden mehrere Dutzend Mal gespielt, auch habe er ihn von anderen gespielt vielfach angehört: er glaube, sich damit dem Kern des Sinnes dieser unfaßbaren Musik einigermaßen genähert zu haben; daß er ihn ganz erfaßt habe, wage er nicht zu behaupten. Es ehre mich daher sehr, daß ich beim allerersten Hören dieses speziellen Satzes schon eine ferne Ahnung vom Geheimnis der »Himmlischen Vierheit« empfunden hätte.
Der Satz ist wie die Besteigung eines Berges im Nebel: ein mühsamer Aufstieg, der im Aufbrechen der Nebel auf der Höhe gipfelt; ein edler, leiser Gesang – durch keinen Text profaniert – führt an die Empfindung vom hellen, sanften Himmel heran, und in ergriffener Kontemplation, wie leise bewegtes Laub, klingt der Satz aus.
Es folgte dann wieder ein kräftiger, die Erde berührender Satz, der – wie mir Herr Shi-shmi anhand einer Zeichnung erklärte, die er anfertigte (denn ich verstehe ja die Musik-Schrift noch nicht) – eigentlich aus zwei ineinander übergehenden Sätzen besteht, die mir wie ein Menschenleben erschienen, das durch alle Höhen und Tiefen des Geschickes und durch den Wandel der Jahreszeiten torkelt. Der Satz – und damit das ganze Stück – endete mit kräftigen, lauten Schlägen, wie das Zuschlagen von Türen, wenn der Krieger hinausstürmt aus seinem Haus zum Kampf.
Ich war wie erschlagen. Es war eine Offenbarung, wie ich sie noch nie in meinem Leben erfahren und wie ich sie am wenigsten hier in dieser Welt erwartet habe. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, und erst, als die drei Freunde des Herrn Shi-shmi wieder gegangen waren, ging ich hinüber, und ohne Zweifel bemerkte Herr Shi-shmi meine Ergriffenheit und freute sich darüber. Wir sprachen lang über die Musik, und ich fragte viel. Herr Shi-shmi erzählte, daß der große Meister We-to-feng dieses Stück – mit mehreren anderen für die gleiche Besetzung – am Ende seines Lebens, quasi als Vermächtnis seiner Kunst für die Nachwelt verfaßt habe, als ihn das für einen Musiker wohl schrecklichste Schicksal: nämlich taub zu werden, ereilt habe. Ja, sagte Herr Shi-shmi, so viele unmusikalische Dummköpfe haben ein vorzügliches Gehör, und ausgerechnet der gewaltige We-to-feng mußte ertauben. Es sei ihm so verwehrt gewesen, jemals seine eigene Musik der Himmlischen Vierheit – und alles andere, was er in seinen späteren Jahren schuf – zu hören. Er hörte es aber mit seinem »inneren Ohr«, wie Herr Shi-shmi sich ausdrückte, und vielleicht erkläre sich daraus die schwebende Losgelöstheit von der irdischen Last. So sei diese Himmlische Vierheit nicht nur Musik, sondern förmlich der frei schwingende Geist der Musik in seiner ganzen Reinheit. Ich stimmte zu.
Es gäbe nun aber auch, sagte Herr Shi-shmi, noch andere gewaltige Meister, die durchaus neben Meister We-to-feng gestellt werden könnten. Das sei zwar immer alles
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