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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Heute und morgen sind solche Tage. Herr Shi-shmi verläßt da oft seine Wohnung gar nicht. Am ersten dieser Tage sind bis Mittag wenigstens die Läden der Kaufleute geöffnet. Am zweiten Tag – den sie »Tag des himmlischen Gebieters« nennen oder »Tag der Sonne« – ruht jeder sichtbare Geschäftsverkehr. Das heißt aber nicht, daß die Großnasen an diesem Tag der Ruhe pflegen und endlich in sich gehen und nachdenken; nein: sie laufen und fahren just an diesen Tagen, wenn möglich, noch aufgeregter herum und führen ihre Kinder und sehr viele Hunde in die Parks. Die Hunde sind oft sehr fett, werden aber nicht gegessen; aber das habe ich Dir, glaube ich, schon berichtet.
    An solchen Tagen also, wenn sich Herr Shi-shmi nicht so früh von seinem Lager erhebt wie sonst, bereitet er ein fast zeremoniöses Frühstück. Gelegentlich trinken wir da sogar schon ein Glas Mo-te Shang-dong oder zwei. Wir lieben beide diese ausgedehnte Frühstückszeit und die zwanglosen Gespräche dabei. Aber heute hat er wieder damit angefangen, daß ich ihm doch meinen Zeit-Kompaß und meine Tasche leihen soll.
    Ich verbeugte mich zu Zwei Dritteln vor ihm und sagte: »Allerhöchstwürdiger Freund sowie Meister der historischen Wissenschaften Shi-shmi-tzu, mächtiger Gebieter über eine unabsehbare Schar gelehriger und folgsamer Schüler, die an der ohne Zweifel überaus bedeutenden Gelehrten-Akademie von Min-chen zu deinen nicht genug zu preisenden Füßen sitzen sowie deine bedeutungsschweren Worte von den wohlgeformten Lippen saugen, Herr dieser köstlichen Wohnung und nicht zuletzt überaus edler Gastgeber und unschätzbarer und geliebter Freund, erlaube mir, daß ich unwürdiger und außerdem höhere Zusammenhänge zu erfassen unfähiger Schmutz-Wurm einige Bedenken vorbringe, die natürlich deinen erhabenen und unanfechtbaren Argumenten gegenüber ohne jede Hoffnung unterlegen sind.« Ich führte alles an, was wir – Du, liebster Dji-gu, und ich – seinerzeit selber an Einwänden gegen unseren Plan geprüft haben: was ist, wenn er über das Zeit-Ende hinausschießt, sei es durch einen Berechnungsfehler, sei es, daß der Lauf der Welt eher zu Ende ist, als wir meinen? Dann kommt man womöglich irgendwo an, wo nichts mehr ist. Oder man löst sich, ehe man sich’s versieht, in Dampf auf. So was ist schnell passiert. Aber Herr Shi-shmi meinte, er sei so neugierig auf eine Zeit-Reise, daß er das Risiko in Kauf nehme. Ja, sagte ich: schon gut, aber ich? Wie stehe ich dann da ohne meine Reisetasche? Bin für den Rest meines Lebens hierher verbannt und verzehre mich vor Sehnsucht nach meiner Shiao-shiao und überhaupt meiner Heimat-Welt. Auf die Dauer gesehen wäre mir die Dame Pao-leng da auch kein Trost.
    Das gleiche Problem wäre gegeben, wenn dem Zeit-Kompaß (unter seinen groben Großnasen-Händen, das dachte ich mir dazu, sagte es aber nicht) etwas zustoße.
    Ja, sagte er: das alles sehe er ein. Aber er wolle versprechen, wie auf seinen Augapfel auf den Kompaß aufzupassen. Außerdem wolle er gar nicht tausend Jahre weiter in die Zukunft reisen, sondern nur zwanzig. Wenn meine tausendjährige Reise so glatt vor sich gegangen sei, werde doch auch wohl bei einer bloß fünfzigjährigen (womit er zwanglos seine Bitte innerhalb von zwei Sätzen um dreißig Jahre hinaufschraubte) nichts passieren. Seinen flehentlichen Bitten war endlich meine Ablehnung nicht mehr gewachsen. Ich wand mich hin und her und versprach zuletzt, es mir bis heute abend zu überlegen … aber: ich werde wohl nicht umhin können, seiner Bitte zu willfahren. Nie mehr – außer nach meiner endgültigen Rückkehr – werde ich so erleichtert sein wie dann, wenn er wieder da sein wird.
    Ich weiß, mein Geliebtester, daß dieser Brief kürzer ist, als Du vielleicht inzwischen gewohnt bist (obwohl immer noch länger als Deine Briefe, die Du aber mit so ausgesucht schöner Schrift schreibst, viel zu schön für Mitteilungen an einen so unwürdigen Freund wie mich), aber ich muß mich eilen. Ich gebe zu: ich bin in diesem Punkt schon von der Hast der Großnasen angesteckt. Aber was will ich machen? Ein einzelner kann sich nicht gegen den rasenden Strom von Geröll stemmen, in dem das Leben in dieser Welt zu Tal stürzt. Ich bin in Eile: ich muß diesen Brief zum Kontaktpunkt bringen; dann begebe ich mich in eines der fahrenden Eisenhäuser und fahre damit zu Frau Pao-leng, die mich erwartet.
    Die Zeit meines Aufenthaltes in dem Haus von Herrn Shi-shmi neigt sich ihrem

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