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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Ansichtssache, und wenn er mir das sage, so sei das seine persönliche Meinung, die sich allerdings mit der vieler anderer Musikfreunde decke. So habe es etwa hundert Jahre vor We-to-feng einen erhabenen Meister namens Yo-yang’ Se-wa-tang’ Wa’ch (ein sehr langer Name) gegeben, dessen Musik äußerst schätzenswert sei. Dieser Meister Yo-yang’ sei im Alter blind geworden (sonst sind Musiker in der Regel nicht blind 10
› Hinweis
) und habe am Ende seines Lebens seinem Schwiegersohn eine Musik in die Feder diktiert, die vielleicht überhaupt der bis jetzt unausgelotete innerste Kern aller Musik sei. Sie heiße ›Die Kunst der dahinfliehenden Notenwerte‹, und man wisse gar nicht recht, mit welchen Instrumenten sie zu spielen sei. Diese Musik bestehe eigentlich bereits aus unirdischen Sphärenklängen und sei eine Art in der Seele tönende Mathematik. Dann habe etwa zur Zeit des Meisters We-to-feng, aber etwas früher als er, ein großer Meister gelebt, der Mo-tsa geheißen habe. Er sei sehr jung gestorben und habe dennoch eine Fülle von Werken hinterlassen, die oft deshalb mißverstanden würden, weil sich dort eine Welt von Dämonen hinter einer gefälligen Fassade verberge. Das gleiche gelte für einen späteren Meister, ebenfalls früh verstorben, der sich als Schüler des Meisters We-to-feng verstanden habe und Fa-shu-we hieß. Vom Meister Fa-shu-we gäbe es ein Musikstück für »Himmlische Fünfheit« mit der Bezeichnung ›Die Forelle‹, das er, Herr Shi-shmi, besonders liebe. Später dann habe ein großer Meister gelebt, von dem man sagen könne, er habe in gewisser Weise vollendet, was We-to-feng begonnen habe. Dieser Meister, der einen langen Bart hatte (Herr Shi-shmi zeigte mir ein Bild), sei von grimmigem Ernst gewesen; seine Musik sei Musik einer Spätzeit. Ein Stück von ihm für die Besetzung »Himmlische Vierheit« hätten er und seine Freunde vor, das nächste Mal zu spielen. Diese Musik sei herb und bitter und wie eine Erinnerung an eine schönere Welt. Yo-yan’ Wa-mas hieß dieser Meister, sei aus einer Stadt im Norden gekommen und sei – meine er , sagte Herr Shi-shmi – der letzte der großen und erhabenen Meister gewesen.
    »Gibt es heute keine Musiker mehr?« fragte ich. »Doch«, sagte er, »aber das ist alles Ansichtssache.« Er schätze zwar manches, was neuere Meister verfaßt haben, manches sei hübsch, manchem müßte man mit großem Respekt vor den Bemühungen der neueren Meister entgegentreten, aber den wahren Gipfel habe, meine er, seit dem Meister Yo-yan’ Wa-mas keiner mehr erklommen. So endete unser Gespräch. Ich legte mich in mein Bett und dachte an den Meister We-to-feng, der, von seinem unmenschlichen Schicksal geschlagen, die Musik der Heiligen, Himmlischen Vierheit aus seinem reinen, inneren Ohr heraus schuf. Ich weinte.
    Das nächste Mal, bat ich Herrn Shi-shmi, möchte ich unbedingt wieder zuhören. Er versprach es mir. Er freue sich, sagte er. So hat auch diese Welt ihr Gutes. Eine Insel des Geistes in Lärm und Gestank.
    Ich schlief in Beseligung. Noch jetzt umwehen mich die Töne des Meisters We-to-feng, die ich nie vergessen werde.
    Und so grüße ich Dich, teurer Dji-gu. Ich wollte, Du könntest auch diese Töne hören.
    Dein Kao-tai

Sechzehnter Brief
    (Samstag, 28. September)
    Mein Freund Dji-gu.
    Soviel Freude mir Herr Shi-shmi bereitet hat, weil ich durch ihn und seine Freunde die Gelegenheit hatte, die Musik seiner Welt und insbesondere den erhabenen und unvergleichlichen Meister We-to-feng kennenzulernen, soviel Kummer macht er mir dadurch, daß er die Sache mit dem Ausleihen des Zeit-Kompasses nicht vergißt. Er kommt immer wieder drauf zu sprechen. Ich kann ihm die Bitte nicht gut rundweg abschlagen, da er mir doch so viel Gutes getan hat, namentlich zu Anfang meines Aufenthaltes hier. Inzwischen kann ich mich ja nahezu selbständig bewegen, tue es auch und brauche seine Hilfe fast nicht mehr. Ohne Zweifel merkt er an meinen Ausflüchten, daß ich alles andere als glücklich bin über seine Bitte. Sonst sehr rücksichtsvoll und feinfühlig, übersieht oder übergeht er mein Zögern. Heute früh, bei unserem ausgiebigen Frühstück, hat er schon wieder damit angefangen. Dazu ist zu sagen, daß nicht jeder Tag so ein Frühstückstag ist. Es gibt einen gewissen Turnus, in dem zwei Tage wiederkehren, an denen die Großnasen nicht arbeiten. Das hängt mit der Zeiteinteilung zusammen, die sie Wo-’cheng nennen. Ich habe dir schon davon geschrieben.

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