Briefe in die chinesische Vergangenheit
sowie in der Literatur und in der Philosophie bewandert sei, nicht sofort ins Auge falle. Am meisten bewandert sei die Dame Pao-leng, wie er mehrfach gehört habe, in allen Arten und Formen der Liebe, aber – wie gesagt – Geld nehme sie dafür nicht. Die Dame Pao-leng, sagte Herr Shi-shmi, sei zweimal verheiratet gewesen. Jetzt lebe sie allein und nehme sich die Freiheit, sich von den Männern beschlafen zu lassen, in die sie verliebt sei.
Das alles war natürlich interessant für mich zu hören, wenngleich ich – was ich selbstverständlich nicht äußerte – dem warnenden Ton Herrn Shi-shmis nicht ganz traute.
Einer der »Freunde« der Dame sei unlängst eine Zeitlang ein stadtbekannter Lyriker gewesen. Der Lyriker habe sogar einige Gedichte auf die Dame Pao-leng verfaßt. Nach einigem Suchen fand Herr Shi-shmi das Buch mit den Gedichten und gab es mir zu lesen. Ich verstand die Gedichte nicht. Herr Shi-shmi sagte, er verstehe sie auch nicht. Das Buch habe er nicht absichtlich erworben, er habe es von der Dame Pao-leng geschenkt bekommen. Er vermute, sagte Herr Shi-shmi, daß sich das Buch mit diesen Gedichten eher schlecht verkauft habe (das kennen wir ja auch von den Produktionen mancher Ehrwürdigen Mitglieder der kaiserlichen Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände«) und daß der Lyriker der Dame einen größeren Posten davon überlassen habe. Wenn ich die Dame nochmals besuche, sagte Herr Shi-shmi, würde ich sicher auch so ein Buch geschenkt bekommen.
Auch eine Methode, seine Gedichte unter die Leute zu bringen. Vielleicht schlage ich sie der Ehrwürdigen Dichtergilde vor, wenn ich wieder zurückkomme.
Alles in allem schien mir die Äußerung Herrn Shi-shmis (und der warnende Ton) verdächtig. Hat er selber auch schon Gedichte auf die Dame Pao-leng gemacht? – und hat sie die Gedichte nicht entgegengenommen? Ich halte es ganz anders aber auch für möglich, daß sich Herr Shi-shmi in fast mönchischer Weise des Geschlechtslebens enthält, denn ich habe nie, in den ganzen zwei Monaten, seit ich hier bin, auch nur eine Spur eines weiblichen Wesens in seinem Leben entdeckt; solche Menschen – so sehr ich Herrn Shi-shmi im Übrigen schätze – neigen dazu, den anderen das zu mißgönnen, was sie selber nicht belustigt.
Auch das ist merkwürdig in dieser Welt. Ob das gut für die Sitten ist? Ich weiß es nicht. Bei uns sind die Frauen entweder Ehefrauen oder Konkubinen oder Mütter oder Töchter; oder aber sie sind Zofen und Dienerinnen. Kannst du dir vorstellen, mit einer Frau befreundet zu sein? So wie Du mit mir befreundet bist? Hier ist es anders. Die Weiber maßen sich an, zu reden und zu denken wie Männer, und die Männer – was für ihre Verweichlichung spricht – lassen sie nicht nur gewähren, sondern akzeptieren es sogar. (Ich werde mit solchen Gedankengängen in meinem Gespräch mit Frau Pao-leng nächste Wo-’che natürlich tunlichst hinterm Berg halten.)
Ich werde auch alleine zu Frau Pao-leng fahren, ohne Herrn Shi-shmi. Auch das habe ich ihm gesagt. Er hält es für richtig, erstens, weil er an dem fraglichen Tag wieder einmal »keine Zeit« hat, und zweitens, weil auch er meint, daß es gut sei, wenn ich lernte, mich in der Stadt selbständig zu bewegen. Ich habe dann diese Gelegenheit benutzt – um ihm zu eröffnen, daß ich – sofern er das nicht als Kränkung auffassen würde – seine Wohnung verlassen und eine eigene Wohnung für den Rest meines Aufenthalts suchen wolle, denn, so meine ich, und sagte es ihm auch, ich will ja einen möglichst umfassenden Überblick über diese Welt gewinnen, und hier – immer in der bequemen Obhut von Herrn Shi-shmi – wäre ich doch auf ihn, auf seine Gewohnheiten und Ansichten festgelegt. Nein, sagte er, er fasse das nicht als Kränkung auf, er verstehe das sehr gut und halte es auch für richtig. Er selber würde es nicht anders machen. Und unserer Freundschaft brauche das ja keinen Abbruch zu tun. Außerdem träfe es sich sogar ganz gut, denn seine verwitwete Mutter käme demnächst – wie jedes Jahr – für einige Wo-’cheng zu Besuch (die Dame Mutter Shi-shmi wohnt in einer anderen Stadt im Norden), und da könne sie dann in dem Zimmer wohnen, das ich jetzt innehabe; obwohl, fügte er gleich hinzu und ergriff meine Hand: auch wenn ich mich anders besänne und doch bei ihm bleiben wolle, ginge das auch, denn dann würde er seiner Mutter sein Schlafgemach einräumen und selber auf einem Diwan im Wohnzimmer
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