Briefe in die chinesische Vergangenheit
schlafen.
Ich sagte: wir werden alles überlegen; aber im Herzen bin ich entschlossen, mich etwas selbständiger zu machen. So sind also meine Tage hier in diesem Haus gezählt. Aber vorerst richten sich meine Gedanken auf den bevorstehenden Besuch bei Dame Pao-leng, und diese Gedanken sind durchwegs angenehm.
Dennoch habe ich meine süße Shiao-shiao nicht vergessen, und meine Zärtlichkeit der Seele gegen sie ist groß wie immer. Schreibe mir von ihr. Was sich im Übrigen in meiner Familie ereignet hat, kannst Du Dir zu schreiben sparen. Dann kannst Du Deine Briefe noch knapper halten. Ich erfahre früh genug bei meiner Rückkehr, ob meine Schwiegermütter noch dicker geworden sind und ob eine Konkubine die Krätze zwischen den Zehen hat. Wenn das Furunkel bei meiner Hauptfrau nicht vergehen will, dann soll es eben bleiben.
Ich umarme Dich, lieber ferner Freund,
und bin Dein Kao-tai
PS: Leider hat Herr Shi-shmi die Sache mit dem Ausleihen unseres Zeit-Kompasses doch nicht vergessen. Noch heute früh hat er wieder davon zu reden angefangen.
Fünfzehnter Brief
(Dienstag, 17. September)
Über alles teurer Freund Dji-gu.
Ich danke Dir für Deine beiden Briefe – was für eine Überraschung für mich, und so lange Briefe –, die kurz hintereinander angekommen sind. Ich freue mich über den lieblichen Pfotenabdruck meiner sonnigen Shiao-shiao. Daß mein Lieblingshengst »Weißer Traum vom zunehmenden Mondviertel« eine Stute des Vizekanzlers decken soll, ist mir nicht recht. Der Vizekanzler ist ein bornierter Dummkopf und außerdem Buddhist. Er versteht von Pferden gar nichts, und ich möchte nicht, daß der kostbare Same meines edlen »Weißen Traums vom zunehmenden Mondviertel« im ungepflegten Stall des Vizekanzlers vergeudet wird. Bitte verhindere es. Falls er Dir gekränkt scheinen sollte, biete ihm in meinem Namen an, daß sein Sohn – wenn ich mich recht erinnere, heißt er Tuan-po und ist nicht ganz so dumm wie sein Vater – eine meiner Töchter heiratet. Es sind ja drei oder vier mannbare herangewachsen. Wenn ich zurückkomme, werde ich alles regeln. Sag ihm das.
Ich freue mich, daß Du mit so großem Interesse und sogar Neugier alle meine Abenteuer hier verfolgst, und ich werde auch fernerhin nicht müde werden, Dir alles haarklein zu schildern.
Gestern abend war für mich eine Stunde neuer Offenbarung. Die Stunden – genauer gesagt: es waren zwei Stunden und eine halbe – zeigten mir, daß es in dieser fernen Welt nicht nur Lärm, sondern auch Musik gibt. Wie nicht anders zu erwarten, war mir die Musik zunächst äußerst fremd, aber ich habe schon bald begonnen, in ihren Kern einzudringen.
Herr Shi-shmi – der kein Musiker von Beruf ist, aber die Musik liebt – hat mich auf den Abend vorbereitet. An bestimmten Tagen kommen Leute zu ihm, drei Freunde, die sich reihum in den jeweiligen Wohnungen treffen, um zu musizieren. Daß ich diese Musik bis jetzt nicht kennengelernt habe, hatte seinen Grund darin, daß die vier Freunde im Sommer in ihren Gewohnheiten eine Pause einlegen, weil man da zu verreisen pflegt. Auch Herr Shi-shmi, sagte er, pflegt den Sommer woanders, meist jenseits der großen Drei Gebirgszüge am Meer zu verbringen. Dieses Jahr habe er es meinetwegen unterlassen. Ich war beschämt, als er mir das erzählte. Er schnitt aber meine Einwendungen ab, indem er sagte, daß der Umgang mit mir ihm mehr Erkenntnisse verschafft und mehr Gewinn beschert hätte als eine Reise und daß ihn die Gespräche mit mir hundertfach für die versäumte Reise dieses Jahres entschädigt hätten. Dennoch dankte ich ihm mit vielen Worten und einer Ein- und Zwei-Drittel-Verbeugung. Aber nun, im September, kämen er und seine drei Freunde wieder regelmäßig zusammen, um zu musizieren. Selbstverständlich nahm ich seine Einladung an, der Musikdarbietung beizuwohnen.
Die Musik wird hier – jedenfalls von Herrn Shi-shmi und seinen Freunden – sehr ernst genommen. Es wird nur Musik gemacht und dabei weder getanzt noch gesungen. (Es gibt aber auch, versichert mir Herr Shi-shmi, gesungene Musik.) Die Musik zu viert, sagt Herr Shi-shmi, gelte unter Kennern als die Krönung dieser Kunst. Sie erfülle keinen Zweck und sei, wenn überhaupt, nur ein Ritual ihrer selbst.
Jeder von den vieren – den drei anderen wurde ich als Gast aus dem fernen Chi-na vorgestellt; sie fragten nicht weiter und redeten auch nicht viel – jeder spielte nur ein Instrument: zwei davon (darunter auch Herr Shi-shmi) spielten ein
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