Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
Vom Netzwerk:
raschelte damit. Ich versuchte zu ergründen, was die Würdelosigkeit des Raumes ausmachte. Die Bank, die quietschte? Die abgewetzten Stühle vorn? (Einer der Stühle war in seine Teile zerfallen und lag unbeachtet am Rand.) Die leicht rußigen Wände? Die achtlos schwätzenden Großnasen, die sich benahmen wie auf dem Markt? Ja, das alles auch, aber vor allem, und das wurde mir in dieser Zeit klar, wo ich mit Herrn Shi-shmi auf jener Bank saß, vor allem: daß der Raum so niedrig war. Die Großnasen, obwohl sie so riesenwüchsig sind im allgemeinen (selbst die Frauen; Dame Pao-leng zum Beispiel ist gut einen Kopf größer als ich), leben und wirken mit Vorliebe in ganz niedrigen Räumen. Grad, daß sie noch aufrecht stehen können. Warum ist das so? Das hat mir noch keiner sagen können. Unsere Tempel sind hoch, die Säle der Paläste haben einen Plafond wie der Himmel, selbst in Privathäusern sehen wir darauf, daß die Decke hoch ist und uns nicht bedrückt. Die Großnasen können in ihren Räumen fast nicht aufrecht stehen. Als mir das hier so klargeworden war, habe ich Herrn Shi-shmi darauf angesprochen. Er hat mich groß angeschaut und im ersten Moment meine Frage offensichtlich gar nicht verstanden. Dann hat er gesagt: wieso? Man braucht ja über den Köpfen nicht viel Raum, das wäre ja Verschwendung. So kann man bei gleichbleibender Höhe der Gebäude mehr Stockwerke unterbringen. Und das sagt ein Herr Shi-shmi, der mit Recht in seiner Welt als Weiser gilt!
    Ich sagte es nicht, aber ich dachte mir: die Großnasen halten ihre Räume so niedrig, weil sie eine panische Angst vor der Würde haben. Raumverschwendung über dem Kopf bedeutet Würde. Warum haben sie Angst vor der Würde? Weil Würde notwendigerweise dem einzelnen – dem Edlen, dem Weisen, dem Richter – zukommt, und das gönnen sie einem einzelnen nicht. Lieber verzichten sie überhaupt auf Würde. So regiert hier die Mißgunst der Niedrigen, und das nennen sie »Herrschaft des Volkes«. Dabei wissen manche Großnasen sehr wohl, zum Beispiel Herr Shi-shmi und Meister Yü-len, daß nur die Würde Ordnung verbürgt. Aber sie wagen nicht, das laut zu sagen.
    Mitten in den schnatternden Haufen kam der Richter, Herr Me-lon, herein. Eine Dame, die, wie sich später herausstellte, eine Art Bütteldienste versah, und es dann doch fertigbrachte, von den schnatternden Großnasen etwas respektiert zu werden, schrie: »Bitte aufstehen, das Gericht!« Natürlich erhob ich mich sofort, auch alle anderen, soweit sie vorher saßen, erhoben sich, aber wenn Du nun erwartest, daß sich alle, wie es sich gehört, zu Boden warfen und auf den Zeitpunkt warteten, wo der Richter sich herabließ, ihnen zu gestatten, wieder ihr Antlitz zu erheben, gehst Du fehl. Keiner warf sich zu Boden. Der Boden war auch ziemlich schmutzig, denn draußen regnete es, und alle hatten Lehm an den Füßen. Ich fragte Herrn Shi-shmi leise – nachdem wir uns auf ein Zeichen des Richters wieder gesetzt hatten –, wer die Leute alle hier seien? Es waren berufsmäßige Fürsprecher. Es ist nämlich so hierzulande, daß kaum jemand selbst zu Gericht geht. Es gibt eine spezielle Kaste von berufsmäßigen Fürsprechern, die die eigentliche Partei vor Gericht vertreten. Warum gehen die, die es in Wirklichkeit betrifft, nicht zu Gericht? Beileibe nicht aus Angst, sondern weil sie die Gerechtigkeit nicht verstehen. Ich habe nachher, nach der Verhandlung, als der Ehrfurchtgebietende Herr Me-lon seinen Talar wieder ausgezogen und auch den weißen Halsschmuck wieder abgelegt hatte, lang mit ihm in einem Speise-Gästehaus in der Nähe des Gerichtsgebäudes gesprochen (ich hatte mir ein Herz genommen und kühn den Richter zum Essen dort eingeladen; er hat es angenommen) und habe ihn viel gefragt.
    Ja, sagte er, es gäbe wohl schon noch so etwas wie eine Gerechtigkeit im Reich der Großnasen, allein diese Gerechtigkeit sei sozusagen tranchiert, aufgeschnitten und in zahllosen Splittern in einer schon unübersehbar großen Zahl (selbst für ihn und seine Kollegen unübersehbar großen Zahl) von niedergeschriebenen Gesetzen versteckt. Es sei eine Spezialwissenschaft geworden, die Gerechtigkeit zu erkennen. Der einfache Mann verstehe das überhaupt nicht mehr, weshalb es eben die berufsmäßigen Fürsprecher gäbe.
    Wer läßt diese niedergeschriebenen Gesetze festsetzen? fragte ich. Der Staat, sagte Herr Me-lon.
    Hast Du Worte, teurer Freund Dji-gu? Es ist also hier so, daß nicht die althergebrachte

Weitere Kostenlose Bücher