Briefe in die chinesische Vergangenheit
beschäftigt, er hat uns aber freundlicherweise einem Kollegen von ihm am Großen Stadtgericht empfohlen, und bei diesem Richter – er heißt Me-lon – meldeten wir uns. Wir wurden von dem Ehrfurchtgebietenden Herrn Richter Me-lon sehr freundlich empfangen, aber sonst war der Eindruck, den ich mitnahm, niederschmetternd. Ich kenne nun inzwischen die hiesigen Sitten zu gut, um ein wahrhaft imponierendes Gebäude mit geschmackvoll bemalten Säulen zu erwarten. Aber dann war ich doch entsetzt. Das Gebäude ist zwar groß, strahlt aber keinerlei Mächtigkeit und nichts aus, was Ordnung und Zucht widergespiegelt hätte, wo doch Ordnung und Zucht die Dinge sind, die ein Gericht wiederherstellen soll, wenn sie in Verfall geraten sind.
Zunächst fiel mir auf, daß unten in dem Gerichtsgebäude Kaufläden eingerichtet sind. Ja! – Du hörst recht: Kaufläden. Und während in den Stockwerken drüber das Maß der himmlischen Gerechtigkeit zurechtgerückt werden soll, verkaufen unten die Krämer in aller Seelenruhe Hosen, Kissen, Blumen, lederne Fuß- Futterale oder Musikteller. (Über diese Musikteller muß ich Dir auch noch berichten; dies aber ein anderes Mal.)
Das Zimmer, in dem Herr Richter Me-lon residiert, ist mehr als kärglich. Es riecht komisch, und die Möbel sind abgeschabt. Das Zimmer ist klein wie ein Hundezwinger, und trotzdem sitzen dort drinnen zwei Richter, die nicht anders können als so sich gegenseitig auf die großen Füße zu treten. Offenbar genießen Richter in dieser Welt weder bei der Bevölkerung noch bei der Obrigkeit – deren Ordnungsorgane sie ja nun eigentlich sind – Hochachtung. Das bestätigte mir mit Wehmut auch sogleich Herr Me-lon, der darauf verwies, daß die Kaufläden unten viel größer und viel schöner eingerichtet seien als die Zimmer der Richter.
Herr Me-lon hat innerhalb des Großen Stadtgerichts von Min-chen eine spezielle Aufgabe. Ganz zu Anfang schrieb ich Dir, daß es an ein Wunder grenze, wenn die chaotisch hin- und herflitzenden A-tao-Wagen und die fahrenden eisernen Häuser und alles, was sich so durch die steinernen Straßen dieser unübersichtlichen Stadt wälzt, nicht ständig durcheinandergeraten. So groß ist, wie ich nun erfahre, das Wunder nicht. Die A-tao-Wagen stoßen sehr wohl zusammen, und nicht zu selten. Dabei werden sie zerbeult, und die Fahrer stoßen sich die Schädel an. Es kommt vor, daß die A-tao-Wagen dabei völlig unbrauchbar werden und daß sich die Fahrer von dem Zusammenstoß nicht mehr erholen und für sie der endgültige Bong 14
› Hinweis
eintritt. Sofern aber die Fahrer überleben, streiten sie nachher darüber, wer schuld an dem Zusammenstoß ist, das heißt: wer die Wiederherstellung des anderen A-tao-Wagens zahlen muß.
Für diese Streitigkeiten sind am Großen Stadtgericht sechs Richter zuständig, die ununterbrochen nur damit beschäftigt sind. Herr Me-lon ist einer von ihnen. Nachdem mir also Herr Me-lon in seinem Zimmer dies und jenes erklärt hatte – der andere Richter, der auch in dem Zimmer seinen Stuhl und Tisch hat, war nicht da –, stand er auf und sagte, jetzt müsse er sich fertig machen und anfangen. Er band sich einen speziellen weißen Halsschmuck um, eine Art weißer Schleife, wie sie zur T’ang-Zeit Weiber im Haar getragen haben, und einen weiten schwarzen Mantel.
Es ist immer wieder das gleiche: obwohl ich inzwischen die hier herrschende Unordnung und den Niedergang der Sitten kenne, erwartete ich, daß ein Rest Ehrfurcht vor dem Altertum sich auch in der Welt der Großnasen bewahrt habe. Ich bin noch nicht gefestigt genug. Ich lasse mich immer wieder enttäuschen. Vielleicht ist es überhaupt unmöglich für jemanden wie mich, der seine Wurzeln in einer so weit entfernten Zeit hat, die andauernde Enttäuschung zu verlernen. Der Saal, in dem die Gerichtsverhandlung stattfinden sollte – Herr Me-lon zeigte Herrn Shi-shmi den Weg, und wir gingen voraus einen engen, finsteren Gang hinunter –, der Saal war eigentlich kein Saal, sondern ein etwas größeres Zimmer. Der kleinste Nebensaal im Hong-tel »Zu den vier Jahreszeiten« ist ein Palast gegen dieses Zimmer. Von Würde und Pracht keine Spur. Furchteinflößende Zeichen fehlen völlig. Wir nahmen auf einer Bank ganz hinten Platz, die quietschte, wie um meine Seelenstimmung beim Anblick dieser Würdelosigkeit wiederzugeben. Eine Menge von Leuten stand herum, schwätzte laut in ihren ordinären, tiefen Stimmen – auch Weiber! –, las in Papierblättern und
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