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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Gerechtigkeit, die feststeht, sofern man die Ordnung von Himmel und Erde beachtet, daß nicht diese althergebrachte Gerechtigkeit dem Staat und seinen Dienern diktiert, was sie gerechterweise zu tun haben, sondern daß der Staat und seine Diener – die sich aber als Herren über den Staat fühlen, wie jener meineidige Minister Ch’i – Dämonischer Südbarbar, den ich in dem nächtlichen Speise- und Trinkhaus mit den Entkleidungskünstlerinnen angetroffen habe –, daß dieser Staat festsetzt, was gerecht sein soll und was nicht. Daß da keine Ordnung im öffentlichen Leben eintritt, ist mir völlig klar.
    Aber zurück zur Gerichtsverhandlung. Alle setzten sich, der Richter auch. Neben ihm saß eine junge Dame mit mürrischem Gesicht. Wer das sei? fragte ich. Das sei eine untergeordnete Gehilfin des Richters, die sehr schnell schreiben könne und das Wichtigste von dem aufzuschreiben versuche, was der Richter und die Fürsprecher sagen.
    Ich verstand natürlich das Allerwenigste von dem, was verhandelt wurde. Mehrfach mußte der Richter die wartenden Fürsprecher ermahnen, ruhig zu sein. Ich bewunderte die Geduld des Richters in diesem Zusammenhang. Offenbar muß die Langmut die Haupttugend der Richter hierzulande sein.
    Es wurden in rascher Folge viele Fälle abgehandelt. Manchmal schimpfte der Richter, daß das, was der Fürsprecher vortrug, der bare Unsinn sei. Das ist auch einer der Nachteile dieses Systems: in so einem Fall hebt der Fürsprecher die Hände, legt den Kopf schief und sagt, er wisse selber, daß das Unsinn sei, sein Auftraggeber habe ihn aber so instruiert. Da sei eben nichts zu wollen.
    In einem Fall wurde etwas länger verhandelt. Da war – das muß schon länger her sein, muß sich im letzten oder womöglich vorletzten Winter abgespielt haben – ein A-tao-Wagen im Schnee ausgerutscht und nicht mit einem anderen A-tao-Wagen, sondern mit dem Eck eines Hauses zusammengestoßen. Der Fürsprecher des A-tao-Wagen-Fahrers argumentierte verbissen, soweit ich das verstehen konnte, daß an diesem Zusammenstoß nicht der A-tao-Wagen, sondern das Haus schuld sei. Wiederum mit unerschöpflichem Langmut versuchte der Richter diesem Fürsprecher einzureden, daß er Unsinn von sich gäbe. Aber der Fürsprecher verbiß sich zusehends in seine Argumentation, bekam einen roten Kopf und begann förmlich zu bellen. Ich hielt den Atem an. Der Richter saß immer noch da und hörte in Geduld zu. Endlich sprang der rotköpfig gewordene Fürsprecher auf und schrie: er lehne den hier anwesenden Richter ab, er wolle einen anderen. Ich erwartete es in Wahrheit nicht, aber einen Augenblick lang dachte ich doch, daß der Richter die Hand ausstrecken, nach drei oder vier starken Bütteln rufen und den frech antwortenden Fürsprecher unverzüglich köpfen lassen würde.
    Aber nichts von dem geschah. Zwar gab es ein wenig Geraune im Saal. Ein paar andere Fürsprecher versuchten, den rotköpfigen zu beruhigen; vor allem sagten sie: er solle nicht so lang reden, weil sie endlich auch drankommen wollten. So beruhigte sich nach einiger Zeit alles wieder, und die Verhandlungen gingen weiter. Nach vielleicht einer Stunde war der Gestank so groß im Saal, daß sich der Richter gezwungen sah, eine Pause zu machen. Auch wir, Herr Shi-shmi und ich, gingen hinaus. Draußen sagte der Richter, Herr Me-lon, zu uns, wir sollten doch mit ihm eine kleine Erfrischung einnehmen gehen. Der Richter zog seinen schwarzen Talar aus, den weißen Halsschmuck behielt er an. Wir gingen wieder durch lange Gänge, dann kamen wir in einen Raum, der scherzhaft »Kleine Stube der Meineide« genannt wird (oder, wenn man es anders übersetzen will: »Stube der kleinen Meineide«) und wo uns ohrenbetäubender Lärm entgegenschlug. Dort saßen an einem Tisch alle die Fürsprecher, die sich vorher so fürchterlich gestritten hatten, und erzählten sich kurze, schelmische Anekdoten, wie sie hier beliebt, für mich aber unverständlich sind. Auch einige Richter saßen hier. Herr Richter Me-lon stellte uns vor, und wir setzten uns. Ich hielt mich bescheiden in einer Ecke. Der Lärm war kaum zu überbieten, weil alle – wie bei den Großnasen häufig – gleichzeitig sprachen. Die »kleine Erfrischung« der Richter und Fürsprecher bestand aus einem ungeheuer gewaltigen tulpenförmigen Glas von Hal-bal, von dem einige, ließ ich mir sagen, schon mehrere getrunken hatten, ohne umzufallen. Ich fragte ganz leise Herrn Me-lon, ob es möglich sei, ein halbes

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