Briefe in die chinesische Vergangenheit
Lauf von nur vier Tagen wahnsinnig.
Wie er dann die Gerechtigkeit finde? fragte ich ihn. Die Gerechtigkeit zu finden, sagte Herr Me-lon nach einigem Nachdenken, sei heutzutage gar nicht mehr möglich. Es gäbe ein Rechtssprichwort, ein ungeschriebenes, die seien aber ohnedies die wichtigeren, und dieses Rechtssprichwort laute: wenn du zu einem Richter gehst, bekommst du keine Gerechtigkeit, du mußt froh sein, wenn du einen Urteilsspruch bekommst. Es sei schwer, sagte Richter Me-lon mit einem tiefen Seufzer, in einer Welt, die so in Unordnung geraten sei, noch der Gerechtigkeit zu dienen.
Mir schien Herr Richter Me-lon ein Mann von tiefen Einsichten zu sein, und ich hoffe, ihm wieder zu begegnen, um weiteres fragen zu können. So verabschiedeten wir uns, und so endete dieser merkwürdige Besuch, der mir tiefen Einblick in alles gewährte, was dieser Staatsordnung an Würde fehlt.
Ich grüße Dich aus der fernen Zeit und bin doch Dein naher Freund
Kao-tai
Zweiundzwanzigster Brief
(Montag, 4. November)
Teurer Freund Dji-gu.
Deine Briefe erfreuen mein Herz in dieser regnerischen Welt. Ich kann sie übrigens inzwischen wirklich besser lesen und brauche sie, um scharf zu sehen, nicht mit weitgestreckten Armen vor mir zu halten, seit ich das kleine Augen-Gestell besitze, das mir Frau Pao-leng hat machen lassen. Nach den Gedichten fragst Du? Ich bin noch nicht dazugekommen, sie anzuschauen. Das Ergebnis des Wettbewerbs wird ja ohnedies nicht vor dem ersten Winterneumond verkündet. Die Ehrwürdigen »Neunundzwanzig moosbewachsenen Felswände« sollen sich gedulden. Außerdem sind die Gedichte wahrscheinlich ungefähr so wie die Gedichte vom letzten Jahr, und die waren wie die vom vorletzten. Es gibt zu viele Leute, die Gedichte schreiben. Das sagt auch Herr Me-lon, den ich inzwischen schon zweimal getroffen habe und der, obwohl er von Beruf Richter ist, von Literatur etwas versteht. Er meint natürlich: Hier , in dieser Welt, in Min-chen gibt es zu viele Leute, die Gedichte schreiben. Offenbar gibt es immer und überall zu viele Leute, die Gedichte schreiben. Ein fixer Punkt in der Weltgeschichte.
Herr Yü-len-tzu, nach dem Du in Deinem Brief fragst, ist abgereist, schon lang. Er mußte nach Hause. Seine Geschäfte riefen ihn. Aber er kommt wieder, spätestens im nächsten Monat. Wir wollen uns dann gleich, um unser Wiedersehen zu feiern, die Entkleidungstänzerinnen in dem Trink- und Speisehaus »Paradies« anschauen. Bis dahin sind neue Künstlerinnen da und haben neue Tänze einstudiert. Was meinst Du in Deinem Brief: die Sache mit den kleinen weißen Kugeln –? Ich verstehe die Stelle nicht.
Ja, es ist schon eine Zauberwelt, wenn auch eine regnerische zumeist. Ich manipuliere hier in Min-chen in dem Hong-tel »Zu den vier Jahreszeiten« an einem Te-lei-fong, und schon läutet im fernen Pei-ching eben ein solcher Apparat am Tisch eines fernen Enkels von uns. Meister Yü-len hat wirklich damals darauf bestanden, daß ich diesen Versuch unternehme: vor der Benützung des Te-lei-fong habe ich keine Angst, wohl aber hatte ich Angst, ob ich die Sprache, die der ferne Enkel spricht, überhaupt verstehe, und daß mich die Rührung überkommt. Aber zum Glück, muß ich sagen – obwohl mich die Sache schon auch interessiert hätte –, war der ferne Enkel in Pei-ching nicht da, und das Glöckchen seines Te-lei-fongs läutete ganz vergeblich. Herr Yü-len-tzu war sehr enttäuscht, aber es war nichts zu machen. Das war am Tag vor seiner Abreise. Am Abend leerten wir noch bei der Dame Pao-leng einige Flaschen Mo-te Shang-dong. Das weithinleuchtende Wellenkleid ist der kalten Jahreszeit nicht mehr angemessen. Frau Pao-leng trug ein rotes Kleid, das um ihren unvergleichlichen Körper sanfte Falten warf. Meister Yü-len war sehr angetan von Frau Pao-leng. Als die Rede auf dies und das kam, sprachen wir auch von meinen Abenteuern im Schwitzkeller. Herr Yü-len-tzu ist ein großer Schwitzer – sagte er – und hat gleich geäußert, daß er unbedingt mit Frau Pao-leng einmal den Schwitzkeller besuchen will.
Das werde ich zu verhindern wissen. Aber sonst freue ich mich darauf, wenn er wiederkommt.
Heute ist Vollmond. Ich weiß es nur, weil ich nachrechne. 15
› Hinweis
Sehen kann man den Mond nicht. Der Himmel ist voll von schweren Wolken. Es regnet, und es ist kalt. Ich denke an den Mond, wenn ich auch die Mondriten – das muß ich zugeben – nicht vollziehe. Ich habe, seit ich hier bin, vier Neumonde vergehen lassen,
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