Briefe in die chinesische Vergangenheit
nur so lange, als jeder Arbeiter einen größeren A-tao-Wagen hat, als er es sich eigentlich leisten kann. Die Großnasen leben auf Kredit auf die Zukunft. Sie werden die Zukunft aufgebraucht haben, ehe sie kommt.
Habe ich gesagt, daß die Religion der Großnasen ein Aberglauben ist? Wenn ich das gesagt habe, so war das doch nicht ganz gerecht. Ihre Religion wäre edel, wenn sie sie befolgten. Es ist so ähnlich wie mit dem Taoismus. Die Lehren des Lao-tzu wären schön und gut, wenn der Mensch so beschaffen wäre, daß er sie befolgen könnte. Der etwas weniger edle Konfuzianismus ist in der Praxis edler, weil er befolgt werden kann. Die Religion der Großnasen ist edel, aber sie befolgen nur ihre äußeren Gebote, und auch die nur oberflächlich. So ist die Religion kein Aberglaube, aber die Großnasen handhaben ihn wie einen solchen. Die Glaubenslehren, denen sie wirklich anhängen, sind die West-Lehre und die Ost-Lehre, von denen ich Dir schon geschrieben habe. West und Ost ist nicht in unserem Sinn zu verstehen, denn der Antagonismus der West- und der Ostlehre kennt bezeichnenderweise keine Mitte.
Die West-Lehre besagt, daß durch Reichtum Glück entsteht. Sie besagt, daß jeder verpflichtet ist, so glücklich zu sein wie möglich. Die West-Lehre stellt den Profit an die höchste Stelle der Errungenschaften und unterwirft ihn – theoretisch – allein gewissen Korrelaten der Moral. Diese Moralkorrelate können religiös-abergläubischer oder aber allgemein-ethischer Natur sein. Die Unterwerfung ist aber theoretisch. Sobald der Profit auf dem Spiel steht, werden entweder die Moralkorrelate so zurechtgerückt, daß sie nicht stören – oder noch einfacher – schlichtweg nicht beachtet. Zum Beispiel weiß man – sagt Meister Yü-len, der ja ein eigentlicher Fachmann auf dem Gebiet ist –, daß die Rauchschwaden, der Qualm, die giftigen Dämpfe, die jene Schmieden (von denen die von mir besuchte eher klein ist) seit Jahren und Jahrzehnten, ja seit einem Jahrhundert ausstoßen, daß die giftigen Essenzen, die bei ihrem Betrieb entstehen und in die Flüsse geschüttet werden, jenen Essig-Regen erzeugen, der die Wälder zerfrißt. Man weiß das und kann die Schuldigen benennen. Aber wenn die Schmieden nicht ihren Giftqualm ausstoßen dürfen, können sie nicht weiterbetrieben werden; wenn sie nicht weiterbetrieben werden können, geht der allgemeine Profit (nicht nur der des Erhabenen Schmiede-Verwalters und der geheimnisvollen Eigentümer der Schmiede, sondern vor allem auch der der Arbeiter) zurück; wenn der Profit zurückgeht, verlieren sie – meinen sie – das Glück. Also wird das Moralkorrelat in dem Fall so zurechtgerückt, daß man schlichtweg so gut wie nicht davon redet. Der Minister Ch’i = Dämonischer Südbarbar stellt sich hin und sagt: es sei alles nicht so schlimm; und wer wagt, ihm zu widersprechen, wird bestraft oder zumindest geächtet.
Ein spezieller Punkt dabei ist, daß alle Minister, sagt Herr Yü-len-tzu, zu den geheimnisvollen Eigentümern der Schmieden gehören. Die Folgen sind leicht auszumalen.
Nun möchte man meinen, daß es im Volk einen Aufstand gibt, wenn man ihm die Luft zusehends verpestet. Weit gefehlt. Die Arbeiter der Schmieden sind in großen, in riesigen Zünften zusammengeschlossen. Diese Zünfte (sie heißen »Einmal geben«, was aber ein Hohn ist, denn sie müßten »Zehntausendmal nehmen« heißen 21
› Hinweis
haben aber nichts anderes im Sinn als die Profitvermehrung ihrer Mitglieder, haben also im Grunde genommen die gleichen Ziele wie die geheimnisvollen Eigentümer und der meineidige Ober-Mandarin, wenn sie es auch nicht zugeben. Dazu kommt, sagt Herr Yü-len-tzu, daß die höchst einflußreichen und wohlhabenden Mandarine dieser I-gei-Zünfte selber wiederum zu den geheimnisvollen Eigentümern der Großen Schmieden gehören, ja, daß die Zünfte als solche einzelne Schmieden betreiben … Das ist, kurz skizziert, die West-Lehre von der Tugend des Profits.
Die Ost-Lehre ist anders, aber nicht besser. Die Ost-Lehre besagt – das dürfte eine der größten Dummheiten sein, die mir je untergekommen ist –, daß die Geschichte einer unverrückbaren Gesetzmäßigkeit unterworfen ist. Dabei weiß jeder, der unverblendet die menschliche Geschichte betrachtet, daß sie zwar schon gewissen Gesetzlichkeiten unterliegt, im Wesentlichen aber das Produkt des Zufalls ist. Sie ist wie ein Strom, der dem Gesetz unterliegt, daß er zu Tal fließen muß. Wie er aber
Weitere Kostenlose Bücher