Briefe in die chinesische Vergangenheit
Brief
(Sonntag, 8. Dezember)
Mein lieber Dji-gu.
Das Jahr der Großnasen neigt sich dem Ende zu, so wie auch mein Aufenthalt in ihrer Welt. Es schneit und es ist kalt. Frau Pao-leng und Kleine Frau Chung sind sich in die Haare geraten. Ich verstehe auch das nicht. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, daß die Frauen in dieser Welt zu leben gelernt haben wie Männer. Da wollen sie offenbar die Zuneigung eines Mannes ausschließlich für sich alleine haben. Ein Gedanke, der mir zutiefst fremd ist. Außerdem halte ich das für schädlich und dem gedeihlichen Zusammenleben für abträglich. Habe ich nicht von beiden, sowohl von Frau Pao-leng wie auch von Kleiner Frau Chung, die Freuden der Liebe mit gleicher Anteilnahme und gleicher Dankbarkeit entgegengenommen? Habe ich nicht jeder von ihnen – jeweils zu ihrer Zeit – von meiner männlichen Kraft gleichermaßen und vorbehaltlos gespendet?
Herr Yü-len-tzu, der leider abgereiste Freund, der von den beiden Damen wußte, hat mich gewarnt. Er hat gesagt, daß sich die Frauen nunmehr das Recht der Eifersucht angeeignet hätten. Was ist schon Eifersucht? Nichts anderes als eine Form des Neides. Das ist auch so eine Merkwürdigkeit in der Welt der Großnasen: der Neid gilt als verwerflich, es sei denn, er tritt in der Form der Eifersucht auf. Es gibt, sagte Herr Yü-len-tzu, eine weitverzweigte Eifersuchts-Literatur; ja, man kann sagen, so gut wie die ganze Literatur der Großnasen handele von nichts anderem als von der Eifersucht.
Ich habe Herrn Yü-len-tzus Warnung ernst genommen und versucht, so gut es ging, die beiden Damen voneinander fernzuhalten, und habe keiner von der anderen erzählt. Es ging deshalb ganz gut, weil ja Kleine Frau Chung nur immer für zwei oder drei Tage in Min-chen ist und Frau Pao-leng oft keine Zeit hat und mit allen möglichen Dingen beschäftigt ist, um die ich mich nicht kümmere.
Aber vorgestern trat die verhängnisvolle Konstellation ein, daß mich Kleine Frau Chung überraschend besuchen wollte, als ich mich gerade mit Dame Pao-leng vergnügte. Ich sagte nur immer: still, still – es ist spät in der Nacht, und womöglich schlafen die Nachbarn schon. Ich will Dir die unschöne Szene im einzelnen nicht schildern. Bäche von Tränen waren das wenigste. Ich hörte vorwurfsvolle Worte, und zum Schluß rannten beide fort. Das heißt: sie wollten beide fortrennen, fürchteten aber, dieselbe Stiege benützen zu müssen. So wartet jede, bis die andere endlich gehe, und gleichzeitig beschimpften sie mich; die eine in der Sprache der Leute von Min-chen, die andere in unserer Sprache. Erst als ich meinerseits Miene machte, mein Zimmer zu verlassen, stürzten beide mit der Drohung, daß ich keine jemals wiedersehen würde, hinaus.
Ich schloß hinter ihnen ab und öffnete eine Flasche Mo-te Shang-dong. Es ist schade, teurer Dji-gu, daß ich Dir keine Kostprobe dieses Getränks mitbringen kann, wenn ich zurückkehre. Ich darf ja meine Zeit-Reise-Tasche nicht übermäßig belasten, sonst bleibe ich womöglich unterwegs für immer stecken. Schade. Der Mo-te Shang-dong würde Dir schmecken.
Küsse mir meine treue und so gar nicht eifersüchtige Shiao-shiao. Tröste sie und sage ihr: ich kehre bald zurück. Sie versteht es, ich zweifle nicht.
Ich bin immer Dein Kao-tai
Achtundzwanzigster Brief
(Donnerstag, 12. Dezember)
Teurer Dji-gu.
Heute haben wir hier den letzten Herbstneumond. Wie immer verschwenden die Großnasen keinen Gedanken daran. (Übrigens sind – oder muß ich besser sagen: waren? – auch Kleiner Frau Chung die alten Riten völlig fremd; sie lebt nach der Sitte der Großnasen.) Dafür aber herrscht jetzt in der Stadt mehr Betriebsamkeit als gewöhnlich. Für die Großnasen gilt dieser Monat als Besonderheit, denn sie glauben, daß jener Gott, den sie verehren, an einem bestimmten Tag am Ende dieses Monats – kurz vor ihrem Neujahrsfest – geboren worden sei. Herr Shi-shmi, bei dem ich wieder zu Besuch war, weil vor einigen Tagen dort die Himmlische Vierheit musizierte, erklärte es mir: die Zeit vor dem Fest, an dem die Erinnerung an die Geburt ihres Gottes gefeiert wird, heißt »Ankunft« und dient zur Sammlung der Gedanken, wird auch gern von allerlei Leuten in der Fern-Blick-Maschine »die stille Zeit« genannt. Es ist ein Hohn, denn nie im ganzen Jahr bisher war ein solcher Tumult auf der Straße wie eben jetzt. (Da fällt mir auf: habe ich Dir von der Fern-Blick-Maschine geschrieben? Ich glaube nicht. Ich verliere
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