Briefe in die chinesische Vergangenheit
achtzig oder wieviel überflüssige Gedichte der Verehrungswürdigen Mitglieder der kaiserlichen Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände« zu lesen. Aber ich habe sie gelesen. Das Gedicht ›Hat die Zeit ein Gewicht‹ vom jungen Lo To-san ist das am wenigsten schlechte. Der Gedanke, daß ein Mann versucht, erst das Wasser, dann die Luft, dann das Licht und endlich die Zeit auf einer hauchfeinen Waage zu wiegen, ist sehr hübsch, und die Moral des Gedichts, daß die Zeit am schwersten auf uns lastet, rührt mich in meiner jetzigen Situation besonders an. Also soll Lo To-san den Preis bekommen. Verkünde das bitte in der Dichtergilde. Die Verleihung erfolgt, wenn ich zurück bin.
Ich werde mir übrigens einen kleinen literarischen Scherz erlauben. In einem der Läden, die Bücher verkaufen, habe ich eine Sammlung von Gedichten aus dem Reich der Mitte gefunden in Übersetzung in die Sprache der Menschen von Min-chen. Es enthält Gedichte von den verschiedenen Poeten unseres Volkes. Mit tiefer Befriedigung habe ich festgestellt, daß kein einziger von den aufgeblasenen Hohlköpfen der »Neunundzwanzig moosbewachsenen Felswände« dabei ist, nicht einmal der noch relativ geistreiche Lo To-san. Fast alle Gedichte, soweit sie zu oder vor unserer Zeit geschrieben sind, waren mir geläufig. Die Sammlung enthält übrigens – ich habe mich sofort erhoben, wie ich das festgestellt habe, und nieder zur Erde geworfen – das Dir ohne Zweifel auch bekannte Gedicht ›Ein zarter Nebelhauch schwebt überm Land …‹ aus der Feder der Erhabenen Majestät, des Himmelssohnes. Die Sammlung beginnt im Übrigen mit Gedichten anonymer Poeten aus der Chou-Zeit und führt hin bis zu Gedichten von Dichtern, die jetzt – in der Großnasenzeit – im Reich der Mitte leben.
Aus der Sammlung entnehme ich, daß vierundzwanzig Jahre nach meiner Rückkehr ein Kind zur Welt kommen wird, das unter dem Namen Ou-yang Hsiu Dichterruhm erlangt. Ou-yang Hsiu wird im Alter von fünfundsechzig Jahren sterben und ein Gedicht mit der Anfangszeile: »Tief, tief die Höfe, tief wie das Verlangen. / Wie tief? – Dunstschleier an den Weidenbäumen –« schreiben. Ich übersetze das Gedicht zurück in unsere Sprache. Die Geburt des Ou-yang Hsiu werden wir – ob wir sie bemerken oder nicht, ich kenne die Familie nicht – vielleicht erleben, seinen Tod nicht mehr. Ich werde das Gedicht in meiner Schrift kalligraphieren und in meinen Papieren hinterlassen. Vielleicht findet es dereinst Ou-yang Hsiu … und dann kann er sich die Sache zweifellos nicht erklären. –
Vor wenigen Tagen war ich mit Herrn Shi-shmi – Frau Pao-leng war auch dabei – in einer öffentlichen musikalischen Darbietung. Sie ähnelte in keiner Weise unseren öffentlichen Konzerten, hatte aber unverkennbare Züge eines Rituals.
Man kleidet sich festlich. In einem großen, hell erleuchteten Saal versammeln sich die Musikliebhaber und setzen sich auf festgenagelte Stühle. Es werden Hefte verteilt, in denen sich Bemerkungen über die Musik befinden, die gespielt werden soll. Die Musiker sitzen – durchwegs schwarz gekleidet – auf einer erhöhten Bühne an der Stirnseite des Saales. Aus dem Heft entnahm ich, daß zwei Stücke gespielt werden sollten, zwei »Himmlische Zusammenklänge«. Es ist hier ja so, daß die Musikstücke nicht nach der Art, nach der Gelegenheit, bei der sie erklingen müssen und dergleichen geordnet werden, sondern nach dem Meister, der sie verfaßt hat. Komischerweise weiß man auch von so gut wie jedem Stück, welcher Meister es verfaßt hat. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß immer nur ganz neue Musik gespielt wird, so daß der Name des Autors noch nicht in Vergessenheit geraten ist. Ich habe Dir schon geschrieben: der von mir so geschätzte Meister We-to-feng (ich werde seine Musik vermissen, wenn ich nach Hause zurückgekehrt sein werde) hat vor weniger als zweihundert Jahren gelebt. Das ist schon fast die älteste Musik, die gespielt wird. Selten erklingt ein Werk, das älter als dreihundert Jahre ist. Das erste Stück »Himmlischer Zusammenklang« stammte von jenem Meister Shu-we, von dem ich schon das Stück ›Überirdische Fünfheit, die Forelle‹ kenne, das zweite Stück von einem jüngst verstorbenen Meister namens Sho-ta-ko-wi.
Wir setzten uns also. Das Orchester war sehr zahlreich. Ich schätzte: sechzig Musiker. Viele Wi-lo-ling-Spieler, auch viele Wa-tsche- und Cheng-lo-Spieler, aber auch Flötisten, Trompeter und
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