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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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etwas den Überblick darüber, wovon ich Dir schon erzählt habe und wovon nicht. Die Fern-Blick-Maschine ist einer der wichtigsten Gegenstände der Großnasen. Es ist eine grobe Unterlassung, wenn ich sie bisher nicht erwähnt habe. Ich werde das nachholen.)
    Es ist üblich, sagte mir Herr Shi-shmi, daß man anläßlich des Gottes-Geburtsfestes, das auch »die Heilige Nacht« genannt wird, seinen Verwandten oder Freunden etwas schenkt. Es ist nicht nur üblich, es ist förmlich ein Zwang. Der Sohn schenkt den Eltern, die Eltern den Kindern, die Schwester dem Bruder, Onkel, Tante, aber auch Schwägern und Cousinen, selbst Nachbarn, Kollegen und Geschäftsfreunden wird geschenkt, die Untergebenen schenken dem Vorgesetzten, alle beschenken einander, ob sie einander leiden können oder nicht. Herr Shi-shmi stöhnt schon bei dem Gedanken, daß er ja rechtzeitig alle Geschenke beisammen hat. Seit Anfang des Monats sind die Großnasen in einem einzigen Rennen begriffen und jagen nach den unsäglichsten Dingen, die sie verschenken könnten. Die Kaufleute reiben sich natürlich die Hände. Wenn alle ihre Geschenke behalten würden, sagt Herr Shi-shmi, gäbe es das ganze Gewürge nicht, und es hätte noch den Vorteil, daß man weiß, was man hat, denn in der Regel bekommt man unnötige, überflüssige und unschöne Dinge geschenkt, die man nicht wegwerfen darf, weil sonst der Schenkende beleidigt wäre, und auch nur unter Aufbietung größter Vorsicht und in gebührendem Abstand von einigen Jahren weiterschenken darf. Die Geschenke werden auf den Schlag am Abend des 24. Tages dieses Monats ausgetauscht. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, daß man von jemandem etwas geschenkt bekommt, dem man seinerseits – entweder man hat es für unnötig befunden oder gar vergessen – nichts geschenkt hat. Da die Geschenke auf einen Schlag ausgetauscht werden, ist dieser Fehler irreparabel, und der betreffende vergeßliche oder nachlässige Beschenkte muß ein Jahr lang den Kopf einziehen und darf sich bei dem anderen nicht blicken lassen.
    So zermartern sich die Großnasen die Köpfe, daß sie ja keinen noch so entfernten Stief-Onkel vergessen, und ich sehe Männer wie Weiber wie von Dämonen gepeitscht durch die schneenassen und eisverkrusteten Straßen hecheln, mit großen und kleinen Paketen bis über den Kopf beladen, die sie aus den Läden – wo sie sich hoch verschulden – nach Hause schleppen, um sie dort zu horten, und am 24. Tag gegenseitig austauschen. Oft rutschen sie aus auf dem Eis. Ich beobachte das gern aus meinem Fenster des Hong-tel, das auf eine Straße hinausgeht, in der viele Läden sind. Es reißt ihnen die Beine in die Luft, die Pakete fliegen den anderen um die Köpfe. Manche Pakete rollen auf die Fahrbahn, wo die A-tao-Wagen darüberrollen. Achtlos steigen die anderen gehetzten Großnasen über die Gestürzten hinweg, die verzweifelt versuchen, ihre Pakete wieder einzusammeln.
    Das nennen die Großnasen »die stille Zeit«. So feiern sie die Ankunft ihres Gottes. Der wird eine Freude haben. Ich fürchte übrigens, daß auch ich, obwohl so denkbar fern stehend, in den Strudel des Geschenkaustausches hineingezogen werde. Wenn ich einige Andeutungen von Herrn Shi-shmi richtig verstanden habe, so bereitet er meuchlings ein Geschenk für mich vor. Und so werde auch ich nicht umhin können, ihm etwas zu schenken.
    Aber das alles war nicht das, was ich mir für diesen Brief zu berichten vorgenommen habe. Nicht nur in den Straßen, an den Wänden der Häuser und in den Fenstern der Läden sind strahlende Sterne und alle möglichen anderen Symbole (Tannenzweige, in merkwürdigen Wiegen liegende Kinder, immer paarweise je ein Ochse und ein Esel), die die Großnasen mit ihrem Erinnerungsfest verbinden, aufgehängt und ausgestellt. Vor allem in der Fern-Blick-Maschine wird dauernd von der kommenden »Heiligen Nacht« geredet, die dabei nicht ungern als »Fest des Friedens« apostrophiert wird. Ich habe mich erkundigt: in der Tat herrscht Frieden vom 24. Tag des Monats mittags bis zum 27. Tag des Monats in der Früh. Aber nur deswegen, weil das Feiertage und alle Läden und Behörden geschlossen sind und in den Schmieden nicht gearbeitet wird. Die Leute sind damit beschäftigt, ihre Geschenke auszupacken, zu betrachten und sich über deren Nutzlosigkeit zu ärgern. Tatsächlich ruhen auch die Prozesse vor Gericht in der Zeit, aber nur, weil die Richter nicht in ihr Amt gehen. Ob auch eventuelle Kriege ruhen? habe

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