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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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wenn ich Musik höre, vergesse, daß ich ein Mandarin des Volkes der Mitte bin. Aber ich erwache dann schon wieder aus der Welt der Töne, und ich weiß, daß – mögen sie auch einen We-to-feng und einen Shu-we haben – die Großnasen über keinen K’ung-fu-tzu verfügen.
    So leb wohl, mein Freund, grüße mir den Lo To-san. Sein Gedicht ist wirklich nicht schlecht. Vielleicht ist es nur deshalb nicht in jene Sammlung aufgenommen, weil es in den tausend Jahren dazwischen verlorengegangen ist. (Das kannst Du ihm natürlich nicht ausrichten.) An Deine weißen Bällchen denke ich.
    Ich umarme Dich und bin und bleibe
    Dein Kao-tai

Sechsundzwanzigster Brief
    (Mittwoch, 4. Dezember)
    Teurer Dji-gu.
    Bevor Meister Yü-len abgereist ist – für mich endgültig abgereist, denn er kommt erst wieder im nächsten Jahr nach Min-chen, zu einer Zeit, wo ich nicht mehr hiersein werde –, hatten wir in der Halle des Hong-tel noch ein langes und großes Gespräch. Obwohl er mich in zweifelhafte Etablissements geschleppt hat, obwohl er von sprunghafter Lustigkeit und oft unkontrollierter Laune ist, obwohl er, wenn er ein Glas zuviel getrunken hat, dazu neigt, stark dumme Sprüche von sich zu geben, ist er ein Mann von tiefen Einsichten. Das muß ich und darf ich jetzt sagen, da ich für immer von ihm Abschied genommen habe. Er freilich glaubt, daß wir uns wiedersehen, und freut sich darauf; es schmerzt mich, ihn enttäuschen zu müssen. Er ist zwar nur ein Gelehrter der Waldbau-Kunst, aber er macht sich viele und ohne Zweifel richtige Gedanken über den Zustand der Welt, in der er lebt, die Welt der Großnasen.
    Die Welt der Großnasen – das ist nicht nur das Fazit unseres Gespräches, das selbstverständlich an meine Eindrücke an jenem Tag in der großen Schmiede anschloß, sondern auch das Fazit meiner bisherigen Beobachtungen – die Welt der Großnasen ist dem Untergang geweiht. Das politische System ist verworren und gibt der Selbstsucht der Politiker Vorschub. Das gesellschaftliche System ist in Unordnung, weil jede natürliche Autorität fehlt. Die Familie als Einrichtung gibt es fast nicht mehr. Die Religion ist ein Aberglaube. Allein der Handel ist es letzten Endes, der hier den Gang der Dinge bestimmt.
    Herr Yü-len-tzu hat mir folgendes Gleichnis erzählt: er stammt aus bäuerlichem Geschlecht. Sein Vater hatte einen Bauernhof in der Ebene, die sich nördlich von Ba Yan bis zum Meer erstreckt. Eines Tages, als eine gute Ernte verkauft war, beschloß der verewigte Vater Yü-len, anstelle der alten Bettgestelle und Schränke neue anzuschaffen. Das geschah auch, allein die alten Bettgestelle und Schränke stammten noch aus der Zeit von Herrn Yü-len-tzus Vaters Großeltern und waren überdies mit wertvollen Schnitzereien verziert. (Unsereiner hätte diese Wohn-Geräte weiter benutzt; nicht so die Großnasen, die müssen immer etwas Neues haben. Aber dieses Phänomen, das ich oft genug erwähnt habe in meinen Briefen, gehört nicht zu dieser Geschichte.) Aus Pietät also, was immerhin doch ein schöner Zug ist, wurden diese Bettgestelle und Schränke nicht zerhackt und verheizt, sondern in einem unbenutzten Zimmer oben im Haus aufbewahrt. Dort drangen die Holzwürmer in die Gestelle und Schränke. Die Umstände wollten es, sagte Herr Yü-len-tzu, daß die Temperatur und die Feuchtigkeit dieses Zimmers, das fortan so gut wie nie jemand betrat, vorzüglich günstig für Holzwürmer waren. Sie vermehrten sich, und da sie an Bettgestellen und Schränken einen ungeheuren Vorrat an Nahrung vorfanden, wurden sie größer und fetter und damit fortpflanzungsfreudiger als gängige Holzwürmer. Sie vermehrten sich immer mehr und mehr und immer schneller, wurden mit ihrer Vermehrung immer noch größer und fetter, und je größer und fetter, desto gieriger, und fraßen die gesamten Bettgestelle und Schränke auf, bis alles zu Staub zerfiel und nichts mehr da war – und da verreckten die ganzen großen und fetten Holzwürmer auf einen Schlag. – Genau in dieser Situation, kurz vor dem Zusammenbruch des Systems, befinden sich die Großnasen.
    Der Handel, sagte ich, bestimmt in der Welt der Großnasen letzten Endes den Gang der Dinge. Ihr Handel – und damit das Geldsystem, damit wieder die Steuern, damit das Staatswesen, damit das Zusammenleben der Großnasen – floriert nur, wenn ständig Neues hervorgebracht wird, ob man es wirklich braucht oder nicht. Wörtlich sagte Herr Yü-len-tzu: das wirtschaftliche System funktioniert

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