Briefe in die chinesische Vergangenheit
fließt, und ob er um diesen Felsen rechts herum und an jenem Felsen links herum strömt oder umgekehrt, hängt oft von einem Kiesel ab, der zufällig dem ersten Tropfen des Flusses im Wege gelegen ist.
Aber die Ost-Lehre geht von einer Gesetzmäßigkeit der Geschichte aus, und ihr Stifter hat sich sogar erkühnt, diese Gesetzmäßigkeit zu errechnen. Es erinnert mich das an die Torheiten der Astrologie.
Die Ost-Lehre geht weiter davon aus, daß das Volk dumm ist – ein an sich nicht falscher Gedanke – und daß es zu seinem Glück geführt werden muß. Das Glück, sagt diese Lehre, liegt in ferner Zukunft. Was es ist und worin es besteht, kann keiner der Ost-Lehrer sagen. Einer davon hat zwar verkündet, dieses allgemeine Glück sei, daß keiner mehr hungern und keiner mehr frieren müsse. Wenn das alles ist? Ich danke.
Nur sträubt sich das dumme Volk – das aber gar nicht immer so dumm ist – gegen das Gängeln zu einem fernen, unbekannten Glück. Deshalb müssen die Ost-Lehrer die Staatsgewalt übermächtig ausbauen, und so steht in den Ländern der Ost-Lehre schon neben jedem, der zum Glück zwangsweise geführt werden soll, einer, der ihn mit vorgehaltenem Säbel führt. Aber das habe ich auch schon erwähnt. Unsere Enkel im heutigen Reich der Mitte gehören – ich lobe den Himmel, daß es erst in tausend Jahren sein wird – zu den Anhängern der Ost-Lehre.
Das merkwürdigste an der Ost-Lehre ist aber das, daß gerade sie, die so etwas Irrationales und allenfalls Poetisches wie ein irdisches Paradies verspricht, sich für eine rationalistische und materialistische Weltanschauung hält.
Wie nicht anders zu erwarten, stehen sich West-Lehre und Ost-Lehre feindlich gegenüber – nicht nur im Geist streitend, wie zwei philosophische Schulen, was ja fruchtbar sein könnte, sondern ganz real: ihre Soldaten fletschen sich, bis an die Zähne bewaffnet, an. Es ist nur deshalb bisher noch zu keinem offenen Konflikt gekommen, sagt Herr Yü-len-tzu, weil sich keiner der beiden ganz sicher ist, daß er siegen wird. Ab und zu bricht ein Konflikt irgendwo am Rand aus, und da gelingt es manchmal dem einen, dem anderen ans Schienbein zu treten. Mehr wagen sie nicht. Gleichgewicht des Schreckens nennt Meister Yü-len das. Daß das keine Grundlage für eine geordnete Welt ist, in der gedeihliches Leben sprießt, ist klar. Aber auch das habe ich in anderem Zusammenhang schon erwähnt.
Die West-Lehre hat einen gewissen Vorteil: das Glück mit dem eigenen Profit gleichzusetzen leuchtet dem einzelnen eher ein, als das Glück in der Ferne zwangsweise zu suchen. Die Ost-Lehre hat den Vorteil, daß sie leichter zu handhaben ist. Überleben wird keine, sagt nicht Herr Yü-len-tzu, das sage ich. Alle sitzen wie die Holzwürmer in den schon fast aufgefressenen Bettgestellen und Schränken.
Auch mit Herrn Me-lon, dem Richter, habe ich über dieses Problem gesprochen. Er sagt: ich solle doch ein Buch veröffentlichen, in dem ich das alles niederlege und den Großnasen zu wissen gebe. Nur ein Außenstehender könne in der heutigen Situation den verblendeten Großnasen, gleichgültig, ob sie der West- oder der Ost-Lehre anhängen, die Augen öffnen. (Herr Richter Me-lon ahnt nicht, wie sehr »außen« ich stehe.) Er gab mir ein Buch, das Buch eines großnäsischen Autors, das vor knapp dreihundert Jahren geschrieben wurde. Ich habe das Buch gelesen, und es hat mich außerordentlich merkwürdig berührt. Der Autor war ein aristokratischer Herr aus einem von hier aus gesehen westlichen Land und hieß Mo-te-kwjö. Der Autor tut in dem Buch so, als sei er ein Prinz aus einem fernen Land, und beschreibt die Zustände im damaligen Reich der Großnasen aus einer scharfen, kritischen Distanz. Das ferne Land, aus dem der Prinz angeblich kam, lag auch im Osten. Du kannst Dir denken, wie betroffen ich war, als ich das las. Ich konnte Herrn Me-lon, als ich ihm das Buch zurückgab, den ganzen Umfang meiner Betroffenheit gar nicht sagen – begreiflicherweise. Ich fragte ihn daher nur: hat dieses Buch des Ehrwürdigen Mo-te-kwjö irgendeine Wirkung gezeigt? Herr Me-lon meinte: ja, mußte aber einräumen, daß diese Wirkung gering war.
Also werde ich nicht meine Zeit damit vergeuden, für die Großnasen ein Buch zu schreiben, und ich halte mich an den Weisen vom Aprikosenhügel: »Der Meister sprach: Seltsame Lehren anzugreifen ist verderblich.«
Ich grüße Dich und bin wie immer
Dein ferner Freund Kao-tai
Siebenundzwanzigster
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