Brigade Dirlewanger
gequält. Seine Stimmbänder werden vom Grauen gequetscht. Er streckt den Arm aus, um zu zielen, aber er kann den wimmernden Kumpel, der ihm gestern noch eine Zigarette schenkte, nicht ansehen dabei. Dafür starren Müllers flehende, aus den Höhlen tretende Augen jeden an. Es ist der letzte Blick eines Verdammten …
»Ich … ich«, sagt Kordt tonlos.
»Wollen Sie den Befehl ausführen?« fragt Weise träge. »Ja oder nein?«
»Jawohl, Oberscharführer.«
»Dann würde ich Ihnen aber raten, sich dabei etwas zu beeilen«, fährt Dirlewangers Günstling im Plauderton fort. Er kommt einen Schritt auf den Jungen zu und tritt ihn unvermittelt mit der Stiefelspitze in das Gesäß.
Jetzt, denken die Umstehenden. Sie horchen. Sie stehen wie angefroren. Über ihren Rücken gruselt die Angst. In den Poren ihrer Haut spüren sie schmierig das Grauen. Es ist nichts Neues für sie. Sie haben jede Gelegenheit, sich daran zu gewöhnen.
Der russische Winter bläst ihnen frostkalte Polarluft in die Gesichter, aber es ist ihnen heiß, siedendheiß. So abgestumpft sie längst sein müssen, ein paar endlose, hundsgemeine Sekunden lang spüren sie ihr Herz wieder in den klammen Fingerspitzen.
Einige verfolgen wie unter Zwang, daß Kordt an sein Opfer bis auf drei Meter herangekommen ist, daß er wieder den Arm ausstreckt, daß über Müllers Gesicht der Irrsinn flackert, daß der Oberscharführer die Zigarette halb aufgeraucht hat, daß der Junge keinen Aufschub mehr herausschinden kann. Und sie wissen nicht, ob sie diesen Schweinehund Weise mehr hassen oder fürchten …
Andere Augen lernen den Boden auswendig oder starren nach oben, zum trüben, bleischweren Himmel, dessen Horizont sich irgendwo wie ein schmutziges Bettuch auf die endlose Schneewüste legt. Selbst Kortetzky, der Gorilla, senkt den Kopf. Selbst Petrat, der Frauenmörder, grinst nicht mehr. Fleischmann, der degradierte SS-Hauptsturmführer, knallt vornüber, schlägt wie ein Holzklotz auf. Keiner kümmert sich um ihn. Aber jeder hört Müllers Gewimmer und Kordts keuchenden Atem. Der Epileptiker Kirchwein stützt sich schwer auf Paul Vonwegh, von dem wieder alles spurlos abgleitet, wie Regenwasser von der Steinmauer.
In diesem Moment fällt endlich der Schuß.
Dünn, ärmlich. Der Schall bricht sich an den Barackenwänden. Es hört sich an, als ob Kordt gleich das ganze Magazin leergeschossen hätte. Müller, sein Opfer, fällt mit von sich gestreckten Armen auf den Rücken. Gott sei Dank, denken ein paar, die sich längst das Beten abgewöhnt hatten. Im ersten Impuls wirken sie alle erleichtert, fast erlöst. Alle, bis auf Kordt, den Jungen, der aussieht wie ein Kind mit einem Greisenkopf: so alt, so zerlebt, so abgestorben. Er starrt fassungslos die Pistole an. Er fuchtelt kraftlos mit ihr herum.
Oberscharführer Weise tritt an Müller heran, dessen Augen groß sind und dunkel wirken, wie die Pupillen eines misshandelten Tieres. Nur allmählich begreift der Mann mit der Nickelbrille, daß er noch lebt, daß ihn Kordts Schuß nur an der Stirne streifte.
Ein zweites Mal will er sich nicht hinrichten lassen. Plötzlich wachsen dem Mann ungeahnte Kräfte, staut der Lebenswille Energie. Von Müllers linker Schläfe rinnt eine dünne, hellrote Blutspur über das Gesicht, über den Mund, das Kinn hinunter.
»Sie Schlumpschütze!« brüllt der Oberscharführer. »Sie Trottel! … Sie feiger Hund!« Weise wirft seine Zigarette im hohen Bogen weg und mustert Kordt gehässig. Er sieht die Todesangst im Gesicht des Jungen und nickt befriedigt. Das genießt er hier, jeden Tag, jede Stunde! Die Macht, ein Menschenleben zum Fliegenschicksal zu erniedrigen. In dreißig Jahren Leben hat es Weise nie zu etwas gebracht, aber jetzt liegen sie auf den Knien vor ihm und zittern, hoffen, betteln …
»Sie wollen die Sache wohl in Raten erledigen«, sagt Weise und lächelt schief. »Das ist Munitionsverschwendung«, brüllt er plötzlich, »Sabotage, Wehrkraftschädigung! … Nehmen Sie gefälligst den Gewehrkolben, Mann!«
Müller handelt. Plötzlich springt er hoch, kommt an dem fluchenden Weise vorbei, läuft dem entsetzten Kordt davon, keucht um sein Leben, trippelt, so schnell er kann. Er spürt Schmerz an der Schläfe, sieht rot vor den Augen und stolpert weiter. Seine Lungenflügel stechen wie Messer, seine Kniekehlen zittern, sein Herz klopft wild. Aber stärker als alles andere ist die Angst, die ihn vorwärtsjagt, obwohl er kaum mehr Chancen hat als ein Tier
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