Brigade Dirlewanger
prüft.
Die Wellenringe des Attentats von Minsk haben die Reichshauptstadt erreicht, zunächst die Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße, wo unter dem monströsen Wort ›Reichssicherheitshauptamt‹ die kranke Gehirnzelle der missbrauchten Macht residiert.
Es ist Mittagszeit, aber keiner geht zu Tisch. In dem großen, weitläufigen Haus mit den hohen Räumen vibriert die Unruhe, von den Kellern der Gestapo bis zu den Archivräumen am Boden. Die Spannung ist fast körperlich zu spüren. Das Gebäude ist so lautlos in Bewegung, als führe es in einem Rollstuhl, auf Gummirädern.
Dann macht sich die gestaute Nervosität frei, wird laut: Türen schlagen, Melder flitzen, Telefone klingeln, Fernschreiber ticken, sämtliche Kuriere sind unterwegs, alle Dienstautos besetzt. Dauerkonferenz in allen Abteilungen.
Vor einer Stunde kam die erste Meldung aus Minsk und wurde nicht einmal ungern vernommen; denn sie bot Gelegenheit, die Ostpolitik noch zu verschärfen. Vermutlich eine grobe Nachlässigkeit der Etappe, dachte man in der Prinz-Albrecht-Straße, und wie bei allen Katastrophen fragte man im ersten Durcheinander nur nach der Zahl der Toten, nicht nach ihren Namen. Dann kam die Verlustliste aus der Dechiffriermaschine: Polizeioberst Prinz und elf Offiziere, der ganze Stab.
Prinz, ist das nicht der Außenseiter, der Himmler in den Ohren lag? Die Vermutung bestätigt sich. Das Führerhauptquartier befiehlt zum Rapport. Der Reichsführer SS möchte vorher unterrichtet werden.
Auch in diesem Haus hat Dirlewanger Freunde und Feinde, Gönner und Ankläger, ungefähr im Verhältnis eins zu eins. Sie alle haben gleichzeitig den Verdacht, daß der Führer der Verbrechereinheit den Anschlag besorgt haben könnte. Und das wäre mehr als peinlich!
Der Mann, der mit lässigen Schritten über den Gang stapft, ist von der allgemeinen Erregung ausgeklammert. Er wirkt hager, zu hager. Die SS-Uniform schlottert an seinem Körper herum, als hätte er sie gestohlen. Die geflochtenen Schulterstücke mit den beiden Sternen weisen ihn als Obersten der Waffen-SS aus, als Standartenführer.
Er bleibt stehen, will nach rechts, geht aber dann, ohne Eile, so, als ob er es sich anders überlegt hätte, nach oben weiter. Seine Augen liegen so tief in den schwärzlichen Höhlen, als hätte man sie mit dem Daumen hineingedrückt. Seine Nase ist hässlich, fleischig. Fahle Haut spannt sich direkt über grobe Knochen und macht den Schädel zum Totenkopf. In diesen halbgeschlossenen Augen lebt nur noch etwas: Gier, Gier auf Leben, Gier auf Essen, Gier auf Frauen.
Jetzt kocht sie auf Sparflamme. Es laufen ja in dieser Zeit die merkwürdigsten Typen in solchen Uniformen herum, aber SS-Standartenführer Dirlewanger fällt aus der Maßkonfektion des SS-Ordens. Dabei ist er die reinste Verkörperung des braunen Herrenmenschen, in der abscheulichsten Form.
Dieser Mann geht die letzten Schritte zu seinem Ziel. Ziel ist sein Gönner. Deckt ihn der Gruppenführer nicht, ist er schon tot. Beweisen kann man ihm gar nichts. Die Frage bleibt auch, ob man ihm etwas beweisen will. Noch ein paar Meter. Dirlewanger geht so demonstrativ sorglos, als spielte er sein eigenes Alibi, völlig gelassen, wenn auch mit dem Einsatz seines Kopfes.
Er geht in das Vorzimmer und muß warten. Zum ersten Mal.
Draußen auf dem Gang.
Die Verfolgung der Attentäter von Minsk wird so jäh abgebrochen, wie sie begann; sei es, daß die Täter gefaßt wurden, oder sei es, daß man die weitere Fahndung als hoffnungslos erachtete.
Die Brigade Dirlewanger marschiert wieder in ihr Waldlager ein. Es ist später Nachmittag, und die B-Soldaten warten auf das Kommando: »Wegtreten!« Stattdessen läßt man sie einfach am Appellplatz stehen, im Karree, als hätte man sie vergessen.
Plötzlich ist Oscha Weise mit seiner Clique wieder da und geht achtlos an den B-Soldaten vorbei, die sich vor ihm ducken. Er wirkt wie eine Ankündigung künftigen Unheils. Allmählich setzt sich in der Sonderbrigade die Ansicht durch, daß sie hier zum Empfang des zurückkehrenden Chefs Spalier stehen sollen.
Gruhnke flüstert Kordt etwas zu, der Spieß bemerkt es und läßt stillstehen, bis sie kein Gefühl mehr in den Fingerspitzen haben. Als sie wieder rühren dürfen, bewegen sie die Hände so langsam, als fürchten sie, die Finger könnten abbrechen.
Einer macht schlapp und fällt um. Er wird ausgezogen, in den Schnee gelegt und mit Wasser übergossen.
»Zehn Minuten bloß …«, ordnet Weise an,
Weitere Kostenlose Bücher