Brigade Dirlewanger
von seinem Plan abgedrängt hatte. Er verschwendete seinen Hass damit, seine Rache zu polieren, Rache an einem Bindestrich, auf den es nicht ankam, auch wenn er Vonwegh übel mitgespielt hatte. Ich hätte ihn erledigen müssen, sagte sich der Kompaniechef, statt mich mit Revanche zu befriedigen.
Vonwegh dachte wieder klar, geordnet, über das Nächstliegende hinaus. Er überwand die Enttäuschung darüber, daß die Sowjets ihm Brillmann abgenommen hatten. Wenn er jetzt hier wäre, nahm er sich zwecklos vor, würde ich ihn auslöschen und mich um das Wesentliche kümmern.
Er war wieder der Alte, zu dem seine Leute aufsahen, von dem eine selbstverständliche Autorität ausging. Ein Amputierter kam auf ihn zu: der rundliche Müller mit der Nickelbrille, schwerverwundet beim seinerzeitigen Einsatz, zwei Nachoperationen. Vonwegh hatte damals durchgesetzt, daß der B-Soldat in ein reguläres Lazarett kam, und jetzt war Müller wieder da und meldete sich, wenn auch nur mit einem Bein, zur Stelle. »Freiwillig«, sagte er zu dem Kompaniechef.
»Sind Sie übergeschnappt?« fuhr ihn Vonwegh an.
»Bin lieber bei Ihnen«, setzte der B-Soldat und Familienvater, der einmal im Leben gestrauchelt war, hinzu, »als im KZ …«
Vonwegh ließ ihn stehen. Er versuchte, noch am gleichen Tag bei Oberführer Dirlewanger eine Sensation durchzusetzen: die Entlassung Müllers aus der Sonderbrigade in die Heimat.
»Bekloppt, was?« zischte ihn der Chef an.
»Nein, Oberführer«, antwortete der Kompaniechef. »Wenn sich das herumspricht … Das ist ein ungeheurer Anreiz für die Leute …«
»Wir sind nicht von der Heilsarmee«, grollte Dirlewanger, »und Sie sind mir überhaupt zu schlau.«
»Es nützt mehr, als hundert aufzuhängen«, entgegnete Vonwegh in der Sprache des Oberführers.
Es kam an. Dirlewanger lächelte. Müller wurde noch am gleichen Tag entlassen. Er saß auf seiner Kiste und weinte wie ein Kind. Vonwegh sah ihn und ging ihm aus dem Weg. Müller wollte ihm danken. Er weigerte sich, vorher das Lager zu verlassen. Erst als der zum SS-Obersturmführer beförderte Weise Müller drohte, ihm die geschenkte Freiheit wieder abzunehmen, lief der Mann mit der Nickelbrille wie gehetzt davon.
Die Entlassung wurde zur Legende. Die B-Soldaten sahen zu Paul Vonwegh auf wie zu einem Erwählten, der Wunder wirken konnte. Er ließ ihnen den Glauben, benutzte ihn als Waffe und wartete auf seine Chance.
Zuletzt kamen noch vier Überlebende aus Minsk, Drei schleppten einen vierten. Der Mann fiel um. Er hatte ein schiefergraues, verfallenes Gesicht, das jetzt alt aussah, obwohl es noch jung war. Paul Vonwegh hatte sie von weitem kommen sehen, trat an die Männer heran und beugte sich über den Verwundeten.
Er erkannte den Mann.
Es traf ihn wie ein Stromstoß. Er spürte ein leichtes Zittern, als er sich aufrichtete. Der Zufall hatte ihm die gefangene Maus, den B-Soldaten Brillmann, wiedergeschenkt.
Die ersten Schüsse fallen im Zentrum von Warschau. Eine deutsche Wehrmachtsstreife bricht im gezielten Feuer zusammen. Während sonst die Polen nach einem Überfall in alle Richtungen auseinanderflitzen, strömen sie heute herbei, besetzen die umliegenden Häuser, tragen offen Waffen. Wilde Entschlossenheit geistert durch die Stadt. Minuten später heulen die Alarmsirenen, rasseln Polizeikolonnen durch die Innenstadt, bleiben stecken, werden beschossen, ziehen sich zurück, wenn ihnen der Weg nicht schon abgeschnitten ist. Der Aufstand von Warschau hat begonnen, und der 1. August 1944 wird zum Schicksalsdatum der polnischen Hauptstadt.
Es ist der zweite Putsch. Vor einem Jahr lieferte das Ghetto den SS-Verbänden einen verzweifelten Todeskampf. Jüdische Männer und Frauen, die in ein Vernichtungslager deportiert werden sollten, hatten den Tod in offener Schlacht dem Ersticken in der Gaskammer vorgezogen. Ihre Revolte wurde mit barbarischer Härte zusammengedroschen, und des Dramas Ende war ergeben-tapfere Agonie.
Diesmal scheinen die Chancen glücklicher gewählt zu sein. Die Heeresgruppe Mitte ist zerschlagen. Warschau liegt bereits am Rand der Hauptkampflinie. Die Russen stehen am anderen Ufer der Weichsel, und die ersten Einheiten der Roten Armee haben sich in Warschaus nördlichem Vorort Praha festgebissen. Die näher kommende Front macht es notwendig, deutsche Truppenverbände von der polnischen Hauptstadt abzuziehen. Es ist auch nicht mehr die Erhebung einer einzelnen Bevölkerungsgruppe, sondern ein allgemeiner Aufstand,
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