Brigade Dirlewanger
Was die sowjetischen Soldaten bei der Entsetzung ihrer Heimat gesehen hatten, gab ihnen die zweite und die dritte Luft. Sie waren nicht nur über die namenlosen Gräber der fünfzehntausend Partisanen hinweggestürmt, die der SS-Standartenführer Dirlewanger als Erfolgsbilanz nach Berlin gemeldet hatte. Sie waren durch niedergebrannte Dörfer gezogen, in denen sich kein Leben mehr regte. Sie hatten mit entkommenen Muschiks gesprochen, die nicht mehr weinen noch lachen konnten. Sie brauchten keine Propaganda, keine Kommissare mehr. Und sie hatten erfahren, daß in der Zange von Minsk die meistgehaßte SS-Einheit war: die Sonderbrigade Dirlewanger.
Marschall Schukow hatte auf Dirlewanger eine Million Rubel als Kopfprämie gesetzt. Es wäre nicht nötig gewesen. Einerseits wünschte sich jeder Rotarmist nichts sehnlicher, als den SS-Offizier zu fassen, zum anderen aber schaukelte der Chef der Sonderbrigade, eben zum SS-Oberführer ernannt und für seine Verdienste bei der Partisanenbekämpfung mit dem ›Deutschen Kreuz in Gold‹ honoriert, über den Köpfen seiner B-Soldaten und besah sich das Chaos von oben.
Es war mehr Bequemlichkeit als Feigheit. Persönlicher Mut war diesem kriminellen Desperado nicht abzusprechen, und wo es etwas zu holen gab, hatte er seine Haut auch zu Markt getragen. Seiner Meinung nach ließ er jetzt keine Kameraden im Stich, sondern Verbrecher, um die es nicht schade war. So türmte Dirlewanger nicht, sondern flog dem westpolnischen Dorf Kadi entgegen, um den Nachersatz seiner ›Löwen‹ zu übernehmen, das letzte Aufgebot aus den Zuchthäusern und KZ’s. Falls seine alten B-Soldaten dem Kessel von Minsk entkamen war es ihm lieb, wenn sie im russischen Feuer liegen blieben, recht. Mit ihnen gingen auch die Zeugen der Verbrechen unter, die sie auf seinen Befehl verübt hatten.
Inzwischen taumelte die ehr- und eidlose Satansgarde, eingekesselt von den Russen, eingekeilt vom Strom der Flüchtenden, weiter um ihr verwirktes Hundeleben. Die B-Soldaten scherten nach rechts aus, liefen in das MG-Feuer hinein, schleppten sich durch das Sperrfeuer hindurch, torkelten aus der einen Falle heraus in die anrollenden Panzer hinein.
Am zweiten Tag des zügellosen Rückzugs war ein Drittel der Brigade gefallen oder verwundet liegen geblieben. Einen weiteren Tag später funktionierte auch die von Paul Vonwegh geführte erste Kompanie nicht mehr. Dabei war es eine Situation, von der ein Mann, der sich jetzt durch Zufall mit SS-Klamotten maskieren konnte, immer geträumt hatte. Jetzt wäre Gelegenheit gewesen, sich zu erheben, zu zielen, zu treffen, dem System in den Rücken zu fallen.
Aber es war noch zu früh. Die Russen hielten die Dirlewangers ausnahmslos für mordende Zuchthäusler. Sie wußten nicht, daß gezielte Gemeinheit sie jetzt mit politischen Häftlingen à la Vonwegh gepaart hatte. Das Schicksal jedes deutschen Soldaten, der den Iwans in die Hände fiel, war schlimm genug, aber ein B-Soldat Dirlewangers kam nicht einmal bis zum Hunger- oder Schweigelager. Er baumelte am nächsten Ast, so er das Glück hatte, daß sie kurzen Prozeß mit ihm machten. Die Iwans erkannten sie an ihrer mangelhaften Ausrüstung, an ihrer Uniform ohne Kragenspiegel und Rangabzeichen. Und sie waren verständlicherweise wie die Teufel auf die Satansgarde aus. Sie kannten und machten keinen Unterschied zwischen Vonwegh und Petrat oder Braun, dem Politischen, und Kortetzky, dem Kriminellen.
Und da die B-Soldaten das wußten, hetzten sie zurück, bis sie liegen blieben, stellten beim Hindernisrennen über Tote und Verwundete Rekorde auf, bei denen der Tod die Zeit nahm. Sie haßten einander und blieben Seite an Seite.
Sie erreichten die Peripherie des Kessels und schätzten die beschissene Chance. Sie stürmten, fielen oder standen. Rechts war links und hinten vorne. Sie taumelten weiter, Magen in der Hand, Leere im Hirn, Grauen im Rücken, Hautfetzen an den Füßen.
Sie hatten sich in Lomscha festgekrallt und verteidigten es im Häuserkampf gegen die Iwans, so konsequent und verwegen, daß sich jeder ein Ritterkreuz verdient hätte. Sie schissen auf Orden, sie wollten leben. Nicht mehr, nicht weniger. Und wenn es nichts taugte und wenn sie auf den Bock kamen und wenn sie im Stehbunker krepierten, sie hingen daran wie Tiere, mit jeder Faser, mit jedem Herzschlag …
Vonwegh erkannte, daß er kein Ausnahmemensch war, daß seine Knochen nicht aus Hartgummi und seine Haut nicht aus Leder bestand und daß sein
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