Bring mich heim
Hinsicht. Er flog sogar zu ihrem Begräbnis. Hier war ich das Monster.
Das Grab war noch nicht fertig. Ein großer Haufen Erde lag darauf anstelle von Blumen oder einem schönen Grabstein. Niemand schien sich darum zu kümmern. Es war ein Monat seit der Bestattung vergangen. Das konnte ich so nicht lassen. Stillschweigend stand ich vor diesem Erdhaufen. Das durfte nicht wahr sein. Mama war nicht mehr hier, sie würde nie wiederkommen. Ich durfte nie mehr mit ihr sprechen. Nie mehr ...
Meine Knie gaben nach. Ich sank auf den kalten Boden. Auf meiner Schulter fühlte ich eine kleine Hand. Mia drückte sie zuversichtlich. Legte ihren Kopf auf mir ab. Die Tränen standen mir in den Augen. Eine einzelne rollte an meinem Gesicht herab.
»Es ist in Ordnung zu fühlen«, hauchte sie in mein Ohr. Ihre Worte ließen das Wasser aus meinen Augen heraus.
»Es tut mir so leid, Mama. Es tut mir so leid ...«, flüsterte ich immer und immer wieder.
»Was ist geschehen?«
Mia überraschte mich mit ihrer Frage. Ich sah sie nicht an, als ich ihr antwortete. »Sie war krank ... Krebs. Sie schrieb mir, dass ihr die Ärzte noch sechs Monate gaben. Aber sie ... sie wollte nicht mehr. Nicht so wie ihr Leben verlaufen war. Ohne ihren zweiten Mann, ohne meinen Vater.« Seufzend fügte ich hinzu: »Ohne mich.«
Mia nahm mich fest in ihre Arme. »Du darfst dir keinerlei Schuld daran geben. Es war ihre Entscheidung.« Sie seufzte. »Alleine ihre. Früher oder später ...« Mia stockte. »Du kannst nichts dafür«, flüsterte sie in mein Ohr. »Hast du mich verstanden?« Sie sprach nicht nur über meine Mutter. Da steckte vielmehr dahinter.
»Mia, du ...«
Sie schüttelte ihren Kopf. »Nein ...«, begann sie zu erzählen, atmete tief durch. »Ich nicht«, brachte sie noch hervor, bis ihr die erste Träne herablief. Ich nahm sie fest in meine Arme. Da hörte ich sie gegen meine Brust murmeln: »Samuel.« Ich ließ locker, damit ich Mia ansehen konnte. »Bring mich heim.«
Kapitel 51
Mia – Zu Hause
Graz, Juli 2012
Diese Situation am Grab, das Erlebnis von Samuel brachte mein Hirn auf Hochtouren. Ich lief tatsächlich davon. Es schien nicht die beste Entscheidung gewesen zu sein. Ich wollte damit niemanden wehtun. Aber es war genau das Gegenteil. Ich wollte nicht mehr davonlaufen. Es war höchste Zeit, dass ich mich meiner Familie stellte.
Ich hatte ein mulmiges Gefühl wieder heimzukehren. Ich hatte meine Eltern und meine Schwester seit gut drei Wochen nicht gesehen. Beinahe hatte ich es einen Monat geschafft.
Das Haus war in Sichtweite. Ich bat den Fahrer des Taxis, ein paar Häuser davor stehenzubleiben. Meine Familie sollte mich nicht auf der Stelle sehen. Die letzten Meter wollte ich alleine gehen. Vermutlich auch, damit ich noch einmal tief durchatmen konnte.
»Samuel?« Aufgeregt stand ich einige Schritte von daheim entfernt.
»Du schaffst das, Mia. Du bist stark. Egal, was es ist, wovor du dich versteckst. Deine Familie wird dir nichts nachtragen.« Er schenkte mir sein Lächeln. Es war das erste Lächeln von ihm in 24 Stunden. Den letzten Tag, welchen wir im Zug verbracht hatten, war er extrem aufmerksam, wenn es um mich ging. Er ließ die Augen immer nur wenige Sekunden von mir. Samuels Gesicht war von Angst gezeichnet. Dass ich wieder meine Blackouts aus Panik bekam. Aber diese hatte ich weitgehend unter Kontrolle. Seit ich mich ihm geöffnet hatte, ging es mir besser. Ein gezwungenes Lächeln versuchte ich auf meine Lippen zu zaubern. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte ich ängstlich nach.
»Alles, was du willst. Du warst für mich da.« Er reichte mir die Hand, platzierte einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin nun für dich da«, flüsterte er dagegen.
Ich lehnte mich fest gegen ihn. »Kannst du bei mir bleiben?« Er nickte. »Egal, was hier passieren wird. Bitte, bitte bleib bei mir. Egal, was da drinnen gesagt wird. Bitte bleib an meiner Seite.« Nach einem stockenden Atemzug fügte ich noch hinzu: »Kannst du mir das versprechen?«
Samuel nahm mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger und hob es hoch. »Kleine, ich werde immer für dich da sein. Es reicht, dass ich abgehauen bin. Von nun an will ich für dich da sein. Immer ... « Leise fügte er hinzu: » Ich habe bereits jemand anderen im Stich gelassen.« Auf seiner Stirn bildeten sich Falten, als er an seine Mama dachte. »Ich bin zu sehr mit dir verbunden. Vor allem möchte ich nichts mehr von dir missen.« Seine weichen Lippen pressten sich auf meine.
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