Bring mich heim
Ex-Freund. Genau in dem Moment, als sie jemanden brauchte, verschwand ich. Ich würde sie wohl nie wiedersehen. Das hatte ich mächtig verbockt. Jemanden wie Mia würde ich mein Leben nicht wieder treffen.
Ich ließ meinen Kopf gegen die Steinmauer hinter mir fallen. Leichter Regen prasselte in mein Gesicht. Es regnete in meine Augen. Tropfen fielen wie Tränen meine Wangen herab. Wenn ich noch länger hier verweilte, kam ich nie mehr zu ihrem Grab. Gestern schaffte ich es nicht hierherzukommen und an diesem Tag saß ich wie ein Bescheuerter vor dem Eingang. Meine Augen schloss ich. Vielleicht konnte ich so meine Gedanken besser sortieren.
»Du solltest hineingehen.« Der süße Klang ihrer Stimme ließ mich aufsehen. Sie trug wieder ihre Mütze.
»Wie lange sitzt du schon hier?« Als ich sie sah, fing mein Herz auf der Stelle schneller zu schlagen an. Ich war froh, sie zu sehen. Es war dumm von mir sie auszuschließen. Es hätte mir klar sein sollen, dass nicht ich der Starke war, sondern von Anfang an war es Mia. Und Mia wusste, wie sich all das anfühlte. Sie war diejenige, welche mir die beste Unterstützung in dieser Situation geben konnte.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ziemlich lange.«
Wir sahen beide geradeaus. Mia drückte ihren Rucksack an den Körper. »Woher wusstest du, wo ich bin?«
»Du hast erwähnt, wo sie wohnt. Nach deinem Brief war es nicht mehr schwer herauszufinden, wo du sein könntest.« Sie klang sehr gekränkt. Aber auch kein Wunder. Ich war gegangen, ohne ein Wort zuvor zu sagen.
Ich wandte mich zu ihr, doch sie sah noch immer nur nach vorne. »Mia ...« Ich seufzte laut. »Ich ... das ...« Nervös fuhr ich mir durchs Haar. »Es tut mir leid, dass ich gegangen bin. Aber, ich dachte ... Eigentlich weiß ich nicht, was ich dachte. Ich dachte gar nicht. Ich bin einfach davon gelaufen.«
Mia drehte nur ihren Kopf in meine Richtung. »Schon gut. Ich verstehe dich. Es gibt Situationen, die man alleine schaffen möchte.« Ihren Rucksack legte sie ab und nahm meine Hand. »Du bist nicht der Einzige, der denkt, dass davonlaufen einfacher ist. Aber ich habe erkannt, dass es leichter ist, wenn jemand an deiner Seite ist. Auch, wenn es die Situation nicht löst. Es wird besser. Erträglicher.«
Ich reichte Mia meine zweite Hand und verschränkte meine Finger mit ihren. »Nimmst du mir das übel?«, fragte ich nervös.
Ihr Blick wanderte zu unseren Händen. Danach wieder hoch. Nach einem leisen Seufzer sagte sie: »Ob ich böse bin?« Leicht schüttelte sie ihren Kopf. »Ich weiß es nicht. Ja ... nein ... vielleicht«, antwortete sie hauchend. Sie sah zu Boden und murmelte: »Ich hätte es höchstwahrscheinlich genauso gemacht.«
Es herrschte eine unangenehme Stille zwischen uns. Niemand war fähig, etwas zu sagen. Niemand traute sich, dem anderen in die Augen zu sehen. Ich wusste, dass ich es mit uns vermutlich vergeigt hatte. Und dennoch war sie hier. Mia wollte mich hierbei unterstützen.
»Samuel«, brach Mia das Schweigen. »Ich bin nicht böse.« Sie sah mir direkt in die Augen, als sie sagte: »Ich bin enttäuscht. Wirklich enttäuscht. Ich dachte, du hast verstanden, dass es alleine nicht geht. Nein, ich bin nicht böse. Denn du hast so viel für mich getan.«
»Wie?«, unterbrach ich sie.
»Indem du einfach du warst. Indem du mich ich sein hast lassen. Indem du nicht über das Thema gesprochen hast.« Mit wässrigen Augen sah sie zu mir. »Damit«, flüsterte sie. Ihre Lippen berührten für wenige Sekunden meine. »Damit. Du hast mir gezeigt, wie man lebt. Dass ich nicht das Atmen vergessen sollte. Dass ich nicht das Leben vergessen sollte.« Hauchend, beinahe nicht hörbar murmelte sie: »Du hast mir gezeigt, wie man liebt.«
Ich wusste nichts darauf zu sagen. Sondern gab ihr einen ebenso zarten Kuss. Dafür gab es keine Worte. »Danke«, flüsterte ich gegen ihre Lippen. »Danke, dass du für mich da sein möchtest.« Ein müdes Lächeln war auf ihrem Mund zu sehen.
Mia stand auf, sah mich mit diesen wässrigen, großen Augen an. Ihre Hand ausgestreckt. »Komm, du solltest jemanden besuchen gehen. Du sitzt schon den gesamten Tag hier, oder?«
»Erst seit acht Uhr morgens.«
»Samuel, es ist bereits zwölf Stunden später.«
Mia hatte recht. Ich musste meinen Mut zusammennehmen und meiner Mutter Lebewohl sagen. Nickend stellte ich mich auf. Wir gingen in den Friedhof herein. Durch meinen Vater wusste ich, wo sie lag. Er war vielleicht ein Biest. Aber nicht in der
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