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Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See

Titel: Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana L. Paxson
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in die Augen blickte. »Das ist ein ungerechter Befehl; er muss ihm nicht gehorchen.«
    »Sei still, Artor! Ich bin der Sohn des Herrn, du bist nur ein namenloses Ziehkind! Treni, rauf auf diesen Baum!«
    Merlin biss sich ob der Erinnerung an den Schmerz, den jene Beleidigung in ihm heraufbeschwor, auf die Lippe. Gaius Turpilius hatte sein Versprechen, das Kind wie sein eigenes aufzuziehen, zweifellos gehalten; Jungen hingegen galten als höchst empfindsam, wenn es um ihren Status ging; sie hätten vorhersehen müssen, dass die anderen Kinder Artor herabsetzen würden.
    Der Knabe selbst verzog keine Miene. Vielleicht war er bereits daran gewöhnt; vielleicht hatte er auch, so wie Merlin, gelernt, seine Wunden meisterhaft zu verbergen.
    Gai packte den Sklaven am Arm und zerrte ihn vorwärts, doch bevor sie den Baum erreichten, erklomm Artor den Stamm und schwang sich auf den untersten Ast.
    »Ich mach’ es – ich bin der leichteste von uns dreien. Leg dich hin, Gai, damit ich auf was Weichem lande, wenn ich runterfalle!« Ein plötzliches Grinsen verwandelte seine Züge in einen herzerfrischenden Anblick. Die Äste erzitterten, als er emporkletterte.
    Merlin trieb das Maultier weiter und ging im Geiste Zaubersprüche durch, um gebrochene Glieder zu heilen. Er konnte die obersten Äste sehen, und wie der irische Junge gesagt hatte, wirkten sie tatsächlich äußerst dünn und zart. Kurz erstarb die Bewegung in dem Baum. Hatte Artor beschlossen, es doch nicht zu versuchen? Ein Stück unterhalb der Krone sah Merlin einen Schemen, der den Jungen verkörpern mochte.
    Dann stach etwas durch die Blätter empor. Es war ein Ast mit einem abstehenden Zweig, der einem Hirtenstab ähnelte. Einen Lidschlag später hatte Artor sich damit den Ast geangelt, an dem der Apfel hing, und zog ihn durch das Blätterwerk zu sich herab. Er denkt! schoss es Merlin durch den Kopf. Er fühlt nicht nur, er denkt auch.
    »Wirf ihn runter, Artor!«, ertönte Gais Stimme von unten. »Ich fang’ ihn auf!«
    »Du könntest ja nicht mal die Sonne auffangen, wenn sie vom Himmel fiele«, rief Artor höhnisch zurück. »Die Äpfel wandern wohlbehalten in meinen Kittel, je einer für die Jungfrau, die Mutter und die Greisin.« Ein weiterer Ast wurde eingefangen, und auch dessen Früchte verschwanden. Ein dritter Apfel folgte dem Weg der ersten beiden, dann fiel der Ast mit dem abstehenden Zweig zu Boden, und der Baum erzitterte erneut, als der Knabe hinabzuklettern begann.
    Merlin, der das Maultier hinter die beiden anderen Jungen gelenkt hatte, blies in einem langen Seufzer den Atem aus und hob die Täuschung der Sinne auf, als Artor unter dem Blätterwerk auftauchte und zu Boden glitt. Der Blick des Knaben wanderte an Gai vorbei zu Merlin; Artors Augen weiteten sich.
    »Herr Ambros! Gai – sieh nur, der Druide ist gekommen! Treni, lauf zurück zum Haus und sag es Herrin Flavia! Herr, wir haben Euch nicht vor dem Herbst erwartet – Ihr wart noch nie im Sommer hier!«
    Artor ergriff einen der Zügel des Maultiers, Gai den anderen; solchermaßen begleitet, wanderte Merlin durch den Obstgarten zu dem Landhaus hinauf, wo Flavia ihm bereits entgegensah.
    »Ihr seid nicht gekommen, um ihn mitzunehmen?«, fragte Gaius Turpilius, während sie des Abendmahls harrten. Die lang gezogene Veranda der Villa wies nach Westen, und so konnten sie beobachten, wie die Sonne hinter den Hügeln unterging.
    »Noch nicht«, antwortete Merlin. »Er sieht gesund aus. Kommt er mit dem Lernen gut voran?«
    »Ziemlich gut«, erwiderte Gaius lächelnd, »obwohl es schwierig ist, den Jungen an Sommertagen wie diesen ihre Bücher schmackhaft zu machen. Sein Lehrer meint, er stellt zu viele Fragen.«
    »Und körperliche Ertüchtigung?« Merlin wusste bereits, dass Artor als flink und behände galt, doch die Jungen hatten ihm das Versprechen abgerungen, darüber Stillschweigen zu bewahren.
    »Beim Schwertkampf ist Gai besser – natürlich hat er den Vorteil, größer zu sein. Aber Artor ist ziemlich flink und zudem ein zäher Bursche, der nie aufgibt. Ich glaube, wenn er mal erwachsen ist, wird er sich tapfer schlagen.«
    Ein Gong verkündete das bevorstehende Abendmahl, und sie begaben sich hinein. In Turpilius’ Haushalt speiste man auf alte römische Weise, nämlich um einen Tisch in der Mitte liegend. Das Essen erwies sich als schlicht, jedoch gut zubereitet: die üblichen hart gekochten Eier; eine Speise aus Linsen mit Wurzelgemüse, gewürzt mit Minze und Koriander;

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