Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
gebratene Forelle aus dem Fluss mit einer Beilage aus Kräutern und Erbsen; und ein gekochtes Huhn mit Honigtunke. Selbst am Tisch des Hochkönigs hatte Merlin schon schlechter gegessen.
Es war mehr als reichlich für fünf Erwachsene, denn Gaius hatte auch seine nächsten Nachbarn eingeladen. Selbstverständlich wussten Gaius und Flavia, wen und was Merlin darstellte. Für ihren Haushalt und die Nachbarn war er nur Ambros, ein Wanderdruide, der ob seiner Neuigkeiten und seiner Weisheit stets willkommen war.
Heute Abend wollten sie Näheres über die Hochzeit erfahren. Sie fanden es überraschend, dass die Zeit der Verlobung nicht länger gedauert hatte. Doch vielleicht, meinte Gaius, wollte der Hochkönig seine nördlichen Grenzen sichern, falls Hengests Sohn Octha aus Germanien zurückkehrte.
»Was hat man sich nur dabei gedacht, ihn entkommen zu lassen?«, fragte Flavia. »Hat man geglaubt, der junge Wolf besäße keine Fänge, nur weil dem alten die Zähne ausgefallen sind?«
Hengest lebte zwar noch und hielt seine Länder in Cantium, doch außerhalb seiner Grenzen hatte er sich seit vielen Jahren nicht mehr gerührt. Niemand wusste, ob er immer noch der Anführer der Invasion war oder ob er lediglich seine Stellung verteidigte. Wenn sie nicht die Briten angriffen, stritt sich die neue Generation von Heiden untereinander, und Octha, der einige Jahre zuvor beinahe Eboracum überrannt hätte, galt als einer der Erfolgreichsten unter ihnen.
Aber nach mehreren Niederlagen hatte Uther ihn gefangen genommen. Anstatt ihn unverzüglich zu töten, wie es ihm viele nahe legten, hielt er ihn als Geisel.
»Hat man geglaubt, Brannos’ Raben würden ihn beschützen? Es heißt, jener Teufel der Heiden, Woden, sei der Herr der Raben. Vielleicht waren seine Vögel stärker als die unseres altvorderen Königs!«
Alle lachten, doch in Wahrheit hatte Merlin sich eben diese Frage selbst schon gestellt. Seit Menschengedenken gab es an dem Hügel nahe des Tamesis, den man den Weißen Berg nannte, Raben. Laut Überlieferung war dort das Haupt des Gottkönigs Brannos beerdigt worden, mit dem Versprechen, Londinium werde niemals fallen, solange er dort bliebe.
Nachdem die anderen Gäste gegangen waren, zog Merlin Gaius beiseite.
»Ich habe vor, Artor nach dem Fest mit in die Berge zu nehmen. Es gibt ein paar Dinge, die ich ihm dort beibringen kann.«
»Gut. Ich trage Phylos auf, seine Sachen zu packen.« Merlin schüttelte den Kopf. »Kein Gepäck. Sich vom Land zu ernähren ist Teil des Unterrichts.«
Sie brachen vor dem Morgengrauen von der Villa auf, denn die Hügel befanden sich weiter entfernt, als es schien. Artor gegenüber erklärte Merlin, er brauchte seine Hilfe dabei, die dort wild wachsenden Kräuter einzusammeln. Anfangs lief Artor voraus, stieß angesichts des ersten Vogelgezwitschers, des flinken Flugs der erwachenden Schwalben, der zuckenden Bewegung eines in ein Gebüsch huschenden Fuchses verzückte Schreie aus. Doch als die Sonne höherstieg, begnügte er sich mit einem beobachtenden Schweigen und ahmte die langen Schritte des Druiden nach, so gut es seine kürzeren Beine gestatteten.
Merlin hatte gehofft, sie würden sich während der Reise miteinander unterhalten können. Bei seinen vorigen Besuchen waren sie stets von den Bewohnern der Villa umgeben gewesen, und als er diese Reise plante, war ihm bewusst geworden, dass er, obwohl er Artor seit dessen Geburt kannte, bislang nur die fröhliche Oberfläche erfahren hatte, die der Junge seiner Um welt darbot. War diese Schweigsamkeit ein naturgegebener Wesenszug, fragte sich Merlin, oder die Antwort des Knaben auf seinen ungeklärten Status innerhalb Gaius’ Familie?
Merlin hatte sein Leben damit verbracht, Wissen zu sammeln. Seit der Nacht der langen Messer, in der er auf so verhängnisvolle Weise versagt hatte, Hengests Maske der Aufrichtigkeit zu durchschauen, hatte er sich dem Studium der menschlichen Seele verschrieben und trachtete danach, zu begreifen, was sich unter der Oberfläche verbarg, so wie er einst die Geheimnisse des Himmels studiert hatte. Uther brauchte ihn, um die verdeckten Beweggründe der Menschen rings um ihn zu enthüllen; es sollte nicht lange dauern, die Geheimnisse eines Kindes zu ergründen.
Gegen Mitte des Nachmittags erreichten sie einen Streifen offenen Weidelandes, getupft mit Kalksteinvorsprüngen, und begannen nach Kräutern zu suchen. Tiefer in der Erde fanden sie Braunellen, deren eiförmige Blätter den Stamm
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