Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
eure Plätze einnehmen. Lasst mir noch einen Augenblick, um mich zu sammeln, dann komme ich nach.«
Auf dem Tisch stand ein Krug voll Wein. Sie schenkte sich einen Becher voll, trank und wartete, bis ihr Herz sich beruhigte. Vom Eingang her ertönte ein Geräusch; sie drehte sich um. Morgause stand dort, auf ihren Wangen prangten zwei leuchtende Flecken. Wie lange war sie schon da, fragte sich ihre Mutter. Was hatte sie gehört?
»Er ist es – es ist mein Bruder, den du wirklich willst, nicht wahr?«, sagte das Mädchen mit leiser Stimme. »Aber er weiß nicht einmal, wer du bist, und Everdila war mir mehr Mutter als du. Ebenso gut hättest du überhaupt nie Kinder haben können! Wenn ich einmal welche habe, ich schwöre, ich werde sie bei mir behalten! Wenigstens sie werden sich der Liebe ihrer Mutter gewiss sein können!«
Damit wirbelte sie herum und stürmte hinaus.
Nach einer Weile verwandelte Igraines Zorn sich in ein Gelächter, das an Hysterie grenzte. Sie stürzte den restlichen Wein hinunter und mühte sich, ihrer Atmung Herr zu werden. Es schien ewig zu dauern, bis sie sich wieder beruhigte. Doch als sie das Gemach verließ, setzte die Hochzeitsprozession sich eben erst in Gang. Sie ergriff den Arm ihres Gemahls, und der Hochkönig und die Hochkönigin Britanniens geleiteten Morgause zu ihrem Schicksal.
Wenn Merlin in die herrliche Gegend oberhalb des Mündungsgebiets der Sabrina gelangte, hatte er stets das Gefühl, sich in der Zeit rückwärts zu bewegen. Die Menschen vom Stamm der Silures, denen die Länder hier einst gehörten, hatten sich vor langer Zeit den Gepflogenheiten und der Kultur Roms angepasst, und obgleich die alte Stammeshauptstadt Venta Silurum nunmehr Ker-Venta genannt wurde, wärmten die edlen Herren vom Lande an Samstagabenden immer noch ihre Bäder und ritten nach altem Brauchtum mit einem zweispännigen Wagen zu Besuchen aus.
Merlin reiste auf einem stämmigen, grauen Maultier. Er schlief lieber in einem Waldstreifen, als bei Leuten Unterschlupf zu suchen, die er nicht kannte, und er zog es vor, im kalten Bach zu baden. Die Stille des Waldes war Balsam für seine Seele, und er segnete Igraine dafür, dass sie ihn auf diese Reise geschickt hatte. Gaius und Flavia würden sich überrascht zeigen, ihn zu sehen, doch ihr Sohn Gai und ihr Ziehkind Artor kannten ihn nur als Wanderdruiden und nahmen sein Kommen und Gehen ohne Fragen hin.
Er erreichte das Landhaus eine Woche vor dem alten Fest der Erntegöttin und ihres Verteidigers, des Lugos, das stattfand, wenn das Getreide auf den Feldern zu reifen begann, und das die Christen mittlerweile das Fest der Maria nannten. Für die Menschen änderte sich deshalb wenig; wie immer bereiteten sie sich darauf vor, ihre ersten Früchte der Herrin darzubringen und zum Herrn zu beten, auf dass er die Ernte beschütze. Es waren nicht nur der Weizen, der allmählich fest und golden wurde, und die Gerste, deren Ähren sich voll und schwer zu Boden senkten. Auch in den Obstgärten schimmerten die obersten Äpfel bereits gelb und rot und versprachen baldige Süße.
Als Merlin von der Hauptstraße abbog und den Pfad zur Villa einschlug, erzitterten die Äste eines Baumes, als wirbelte ein ausgesprochen ortsgebundener Sturm durch sie. Von innerhalb des Blätterwerks ertönten hohe Schreie. Der Druide zügelte das Maultier. Nach kurzem Überlegen spann er rings um sich jenen Glimmer, der verhinderte, dass ihn jemand zu sehen vermochte.
Abermals erbebten die Äste, und eine kleine Gestalt mit kupferfarbenem Haar stürzte zu Boden. Merlin erkannte sie als einen der irischen Sklaven der Villa.
»Ich krieg’ sie nicht runter, Gai, so heftig ich auch schüttle. Diese Äpfel sehen wohl reif aus, aber sie sind es nicht!«
»Ich habe geschworen, sie morgen unserer Herrin darzubringen!«, erklärte der Knabe, der neben dem Baumstamm stand. Mit dem strammen Körperbau und dem schwarzen Haar erinnerte er bereits jetzt an Gaius Turpilius den Älteren. »Kletter wieder rauf und pflück sie, wenn sie nicht herunterfallen.«
»Die obersten Äste sind zu dünn – sie werden brechen, und ich werde abstürzen!«, warf der Sklave ein.
»Also, ich bin gewiss zu groß, um dort hinaufzuklettern!«, meinte Gai recht selbstgefällig. »Versuch’s noch mal! Ich befehle es dir!«
»Nein«, mischte sich ein dritter Knabe ein, jünger und kleiner als die anderen beiden. Sein Haar war von der Farbe des Baumstammes, auch sonst wirkte er eher unscheinbar, bis man ihm
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