Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
Burg zu bauen, »in der Ebene von Salisbury« spielt.
Der Nabel der Welt
Nun ist aber das Motiv der einstürzenden Burg nicht nur mit Stonehenge verknüpft, sondern auch mit einer Megalith-Gruppe in Irland. Es heißt, dass die Steine von Uisnech vom hl. Patrick mit einem Fluch belegt worden sind und daher jedes Gebäude zum Einsturz brachten, für das man sie gerade verwendete. Es scheint also, als habe sich um beide Orte eine Legende gerankt, wonach ein Zauber daran schuld sei, dass ihre Steine nie richtig aufgestellt werden konnten.
Bemerkenswerter noch ist die Tatsache, dass, wie Giraldus Cambrensis im 12. Jahrhundert erwähnt, ein aufrechter Stein in Uisnech der »Nabel« Irlands war! Auch die Geschichte von König Lludd und den Schlangen spielt im »Zentrum« Britanniens, das dort mit Oxford – einer späteren sächsischen Gründung – gleichgesetzt wird. Sehen wir jedoch, wie Geoffrey Stonehenge mit dem »Nabel« von Irland in Verbindung bringt, so liegt der Verdacht nahe, dass hier der traditionelle »Nabel« Britanniens war und dass es noch im 5. Jahrhundert als ein heiliger Ort angesehen wurde. Zudem wird der Nabel der Welt in anderen Traditionen – etwa zu Delphi in Griechenland – als Stätte der Weissagung gesehen, was die Möglichkeit eröffnet, dass Vortigern wegen der folgenschweren Entscheidung, die Sachsen ins Land zu rufen, dort seine Druiden um Rat fragte. Es könnte durchaus sein, dass die kämpfenden Drachen oder Schlangen etwas mit einem Orakel zu tun hatten, das in prophetische Verse gekleidet war, wie sie Merlin in späteren Zeiten zugeschrieben wurden.
In der Version der Historia Brittonum wird die Prophezeiung von dem vaterlosen Knaben erläutert, dessen Name mit »Embres« angegeben wird. Auch wenn dieser, wie oben erläutert, nicht mit dem romano-britischen Heerführer Ambrosius identisch ist, leitet sich der Name Emrys, als Vorname durchaus gebräuchlich, von demselben Wort ab. Das lateinische Adjektiv ambrosius bedeutet »unsterblich«, »göttlich«. Nikolai Tolstoy entwickelt daraus in The Quest for Merlin (1985) die – zugegebenermaßen sehr spekulative – Hypothese, dass die Rituale in Stonehenge von einer Reihe von Priestern oder Priesterkönigen geleitet wurden, die einen entsprechenden Namen oder Beinamen trugen.
Der von Gildas erwähnte Ambrosius dürfte in der zweiten Hälfte des 5.Jahrhunderts gelebt haben. Trotzdem werden die zwei Namen seit frühen Zeiten beharrlich miteinander verknüpft. Die Koppelung der beiden findet sich bei Geoffrey in der Form: »Merlin, der Ambrosius genannt wurde«. Schon die seltsame Unbeholfenheit verrät, wie sehr er sich der Notwendigkeit bewusst war, dass eine Gestalt, die gleichzeitig Merlin und Ambrosius hieß, einer Erklärung bedurfte.
Das Erbe von Stonehenge
Doch bei Geoffrey findet sich noch ein anderer Hinweis, der in Betracht zu ziehen ist. In der Vita Merlini bittet Merlin seine Schwester, ihm ein seltsames Bauwerk in der Wildnis zu errichten:
»Lasse mir neben anderen Gebäuden ein entlegenes Haus errichten mit siebzig Türen und ebenso vielen Fenstern, durch die ich den Glut atmenden Phöbus und die Venus betrachten kann und die anderen Sterne, wenn sie über den nächtlichen Himmel ziehen. Sie werden mich belehren über die künftigen Geschicke von Volk und Herrschaft.«
Man kann sich kaum ein anderes Bauwerk vorstellen, dessen Anblick der Beschreibung von Merlins Observatorium so ähnelt, als Stonehenge mit seinen gewaltigen, durch Decksteine miteinander verbundenen Steinblöcken, riesigen Türen gleich. Trifft diese Vermutung zu, so hätte es sich bei der Erinnerung an Stonehenge als ein Observatorium um eine erstaunlich langlebige Überlieferung gehandelt. Dass die Steine von Stonehenge nach astronomischen Gesichtspunkten ausgerichtet waren, wird heute allgemein angenommen, auch wenn über das Ausmaß und den kultischen Zweck der Beobachtungen die Meinungen auseinander gehen.
Der Merlin des Nordens kann, wie gesagt, kein Zeitgenosse Vortigerns oder des britischen Heerführers Ambrosius gewesen sein, und es ist auf den ersten Blick eher unwahrscheinlich, dass er direkt etwas mit Stonehenge zu tun gehabt hat, das sich Mitte des 6. Jahrhunderts bereits in den Händen der Westsachsen befand. Falls aber Embreis, Embres, Emrys oder dergleichen die Jahrhunderte hindurch ein Beiname oder Titel der Hüter von Stonehenge war, Merlin aber als deren Erbe angesehen wurde, könnte er sehr wohl als »Myrddin
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