Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
es, der den Blick abwandte.
Während Oesc das geneigte Haupt des Königs betrachtete, wurden ihm zwei Dinge klar: Zum einen, dass er für Artor eine Liebe empfand, die er für keinen anderen Herrscher aufzubringen vermochte, zum anderen, dass er nach Hause zurückkehren musste.
»Euer Großvater war ein Germane, der im Dienste Roms stand. Meiner war der Mann, der ihn getötet hat, so wie Euer Vater den meinen getötet hat«, sprach er mit Schmerz in der Stimme. »Wäre ich nicht, wer ich bin, würde ich Euch ein Leben lang dienen. Aber wäre ich nicht Hengests Enkel, so hätte ich diesen Platz an Eurer Seite niemals eingenommen. Auch etwas anderes sollt Ihr noch wissen. Ehe ich Euch zum ersten Mal sah, habe ich ein Gelübde vor der Göttin abgelegt, die über das Land Cantuware herrscht. Ich muss zurück und ihr König werden.«
»Die Herrin…« Artor drehte sich wieder zu ihm um, die Augen vor Erinnerungen verschleiert. »Ich verstehe. Du wirst mir fehlen – « Er streckte die Hand aus und ergriff jene Oescs. »Durch dich habe ich gelernt, die Sachsen, gegen die ich kämpfen muss, niemals als gesichtslosen Feind zu betrachten und allen, die in meinen Ländern leben, ein gerechter und aufrichtiger Herrscher zu sein.«
Oesc nickte. Gewiss war es der kalte Wind, der seine Augen reizte.
»Noch eins, als Dank für die Dienste, die du mir erwiesen hast: Ich lasse einen Vertrag zwischen uns aufsetzen, der dir jene Rechte sichert, die der Vor-Tigernus einst Hengest einräumte. Es liegt drei Generationen zurück, seit aus Cantium Cantuware wurde. Selbst wenn ich das Gebiet morgen zurückerobern würde, die Briten, die früher dort lebten, sind in alle Winde verstreut und verschwunden. Dir und deinen Erben soll das Land gehören, Oesc; es ist sächsische Erde.«
In der Nacht, in der sie Oescs Abschied feierten, betrank Artor sich zum ersten Mal seit dem Lugus-Ritual in Dun Eidyn. Zumindest glaubte Bediver, der König sei in jener Nacht betrunken gewesen. Alle anderen waren es jedenfalls, und er erinnerte sich, dass Artor am nächsten Morgen genauso rote und getrübte Augen gehabt hatte wie alle anderen Männer.
Das Fest gestaltete sich formell, das Essen nach römischer Art, mit gewürzten Rüben und wilden Frühlingskräutern mit Ölen, gekochtem Getreide mit Soßen, vorzüglich zubereitetem Geflügel und in Wein geschmortem Spanferkel. Gewiss würde Oesc in seiner sächsischen Heimat kein solches Mahl erhalten, dachte Bediver, während er zu entscheiden versuchte, ob er noch Platz für ein weiteres Stück Holunderbeerenkuchen hatte. Doch obschon ihm noch immer das Wasser im Mund zusammenlief, war sein Bauch anderer Meinung; zudem hatte er den Gürtel bereits um ein Loch verlängert. Seufzend schob er den Teller von sich.
»Willst du das nicht mehr?« Gwalchmai griff über den Tisch und schob die Reste von Bedivers Teller auf den seinen. Seit er mit Artor nach Süden gekommen war, hatte Gwalchmai ein gutes Stück an Körpergröße zugelegt und war ständig hungrig. Er würde zu einem großen Mann heranwachsen.
Diener begannen, die Teller abzuräumen und für Nachschub an Wein zu sorgen. Oesc brachte einen Trinkspruch auf den König aus; der erwiderte ihn höflich, das kurz geschorene, braune Haar zerzaust, die Augen leuchtend. Gai stieß auf die Armeen von Britannien an; Artor trank auf deren Befehlshaber. Damit wäre eigentlich Cador an der Reihe gewesen, doch der Dumnonier, der Oescs Anwesenheit in der Armee schon kaum dulden mochte, hatte sich geweigert, an der Feier teilzunehmen. Niemand vermisste ihn. Inzwischen spürten alle die Wirkung des Alkohols, und Oesc machte einen niedergeschlagenen Eindruck, außer wenn er sich zu einem Lächeln zwang.
Die Geschenke, die Artor seiner einstigen Geisel mitgab, wurden hereingebracht. Oesc wurde abwechselnd rot und blass, als er sie entgegen nahm. Da waren eine Lorica hamata, ein römischer Brustharnisch aus ausgestanzten und vernieteten Ringen, und ein mit Goldschmuck versehener Offiziershelm. Doch abgesehen von der feinen Beschaffenheit würde er damit zu Hause kaum auffallen – die Hälfte der sächsischen Streitkräfte war mit erbeuteten römischen Rüstungen ausgestattet. Bediver fragte sich im Stillen, zu welchem Anlass Artor von dem Sachsen erwartete, sie zu tragen. Vielleicht beabsichtigte er, Hilfstruppen aus Cantium zusammenzustellen, falls die Pikten wieder Unruhe stiften sollten.
Außerdem erhielt Oesc Hemden aus byzantinischer Seide, einen
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