Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
folgen, und so verlor ich es.«
Gwalchmai blickte ihn verständnislos an.
»Ich glaube, ich habe Oescs Freundschaft erlangt; zudem gab er mir sein Wort«, erklärte Artor. »Aber obwohl Hengests und Icels Geschlecht stets als Gegner galten, halte ich es für klüger, Oescs Treue nicht allzu sehr auf die Probe zu stellen. Zum Königtum gehört mehr, als nur Befehle zu erteilen – man muss das Wesen derer begreifen, die herrschen.«
Gwalchmais ohnehin schon rote Wangen glühten in einem noch tieferen Rot. »Mir genügen Eure Befehle.«
»Weil das dein Wesen ist«, erwiderte Artor mit sanfter Stimme.
»Zweifellos wird Cador Männer senden, aber es wird eine Weile dauern, bis sie hier eintreffen«, sagte Bediver in die Stille, die folgte. »Er liebt es, Sachsen zu töten; es ist ihm auch gleichgültig, zu welchem Stamm sie gehören. Ein Trupp wird aus Glevum kommen, ein weiterer aus Deva – « Er erwog die Stärke ihrer Streitkräfte.
»Und wir brauchen Fußsoldaten. Ich frage mich…« Plötzlich lächelte Artor. »Vielleicht würde mir Cunorix einen Trupp seiner wilden Iren senden. Sie werden keine Bedenken haben, gegen Icel zu kämpfen, wenn sie einen guten Anteil an der Beute erhalten.«
Draußen regnete es unvermindert.
Auch in Cantuware regnete es. Oesc hieß vorbeiziehende Wanderer in seiner Halle willkommen und lauschte ihren Berichten. Während er gemütlich am Feuer saß, bedauerte er die Männer, die über die triefnasse Erde der Länder der Coritani marschieren mussten, und er sagte sich, dass diese Art zu kämpfen ohnehin keinerlei Ruhm berge.
Das Wetter, das die königlichen Boten aufgehalten hatte, sorgte auch dafür, dass die Antworten jener, die Artors Ruf folgten, nur zögernd eintrafen. Die Angeln hingegen, die an sumpfigen Untergrund gewöhnt waren, drängten weiter, und kurz nach Beltene kam die Kunde, Lindum sei gefallen. Nun besaß Icel ein Hauptquartier, von dem aus er, wenn er es zu halten vermochte, über alles Land zwischen Eboracum und Durolipons herrschen konnte.
Oesc warf dem Bettler, der ihm die Neuigkeiten berichtet hatte, eine Münze zu und verließ die Halle. Der feine Nieselregen bildete auf der blauen Wolle seines Mantels winzige Kristallperlen, doch er nahm die Feuchtigkeit kaum wahr. Er sah nicht den Schlamm des Hofes, sondern die blutige Erde eines Schlachtfelds, und statt Wulfhere und Guthlaf und den anderen Männern seines Haushalts Bediver, Gwalchmai und Artor selbst, wie sie gegen den Feind ritten. Er hätte bei ihnen sein sollen – doch er verstand, weshalb der König ihn nicht gerufen hatte. Fürchtete Artor tatsächlich, Oesc könnte in Versuchung geraten, auf der anderen Seite zu kämpfen?
Er hatte Artor schon einmal in einer Schlacht gegenübergestanden, zu einer Zeit, als er ihn noch nicht kannte. Bei dem Gedanken, es wieder zu tun, befiel ihn ein unbehagliches Gefühl. Doch sein Leib schrie nach Taten; er wollte kämpfen. In jenem Augenblick hätte er gegen jeden kämpfen können, und die Leute des Gehöfts wichen vor ihm zurück.
Alsbald stand er vor dem Stall.
Er verlangte nach seinem Pferd. Jemand fragte ihn, ob er jagen wollte, und er nickte. Wenig später ritt er mit einem kleinen Tross im Trab auf das südöstliche Stadttor zu.
Mehrere Meilen lang erstreckte die Straße sich kerzengerade über die Ebenen östlich des Flusses. Zu ihrer Rechten schimmerten seine Wasser zwischen sumpfigen Werdern. Doch Oesc hatte nicht die Absicht, auf die andere Seite zu gelangen – diese so nahe der Stadt gelegenen Wälder bargen keine Beute, die ihn zu reizen vermochte.
Die Nacht brach an, ehe sie den Fluss überquerten und auf den uralten Pfad gelangten, der zu den Gipfeln der Hügelländer hinaufführte. Dort machten sie Rast. Am folgenden Morgen, ehe die Sonne vollständig aufgegangen war, ritten sie auf dem Pfad in die Hügel. Die Nacht im Freien hatte Oescs Unruhe ein wenig gelindert. Das Reiten vertrieb die Kälte aus seinen Gliedern, und die steifen Muskeln entspannten sich. Tief sog er die Morgenluft ein, die nach Humus und frischem Gras roch, und spürte, wie sich auch in ihm ein wenig die Anspannung löste. Zum ersten Mal, seit er die Halle verlassen hatte, nahm er seine Umgebung wirklich wahr. Und als seine Begleiter und er kurz nach Mittag die Fährte eines Hirschen kreuzten, schwand alles andere aus seinen Gedanken, und er gab sich ganz der Freude an der Jagd hin.
Nach der Tiefe der Spuren zu schließen, war der Hirsch ein ausgewachsenes reifes
Weitere Kostenlose Bücher