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Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben

Titel: Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana L. Paxson
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umfasste das Gesicht des Jungen mit schwieligen Händen. Nach einer Weile schluckte er.
    »Du hast die Augen deiner Mutter…«
    Oesc nickte. Dasselbe hatte Haedwig ihm gesagt.
    »In deiner Stirn aber erkenne ich Hengest… Wie nennt man dich?«
    »Ich bin Oesc, Sohn des Octha.« Seine Stimme schwankte nur ein wenig.
    »Mein Sohn!«
    Starke Arme schlossen sich um ihn; Oesc roch Pferd, feuchte Wolle und den durchdringenden Geruch des Mannes. Es erschien ihm seltsam. Erst vor kurzem hatte Woden ihn seinen Sohn genannt. Der einst vaterlose Knabe fand sich plötzlich überhäuft mit Verwandten. Als Octha ihn losließ, holte er tief Luft.
    »Ich kehre zurück nach Britannien, wo die Kühe auf den grünen Weiden fett werden und die Äpfel süß und saftig an den Ästen hängen. Willst du mit mir kommen?«
    Bald, hatte Woden ihm vorausgesagt, würde er wählen müssen. Oesc blickte in die sturmgrauen Augen seines Vaters, doch als er sprach, wusste er, dass er dem Gott antwortete.
    »Ja, Vater, ich komme mit dir.«
     
    Drei Tage waren seit Octhas Ankunft vergangen. Der Sturm war weitergezogen, doch auf dem Versammlungsfeld spiegelte sich der blaue Himmel in vereinzelten Pfützen. Nur im Südosten hingen noch ein paar Wolkenfetzen. Als die Leute sich einfanden, zertrampelten sie das grüne Gras zu braunem Matsch. Aber vielleicht würde das gar keine Rolle mehr spielen, dachte Oesc, während er sie von seinem Platz an der Seite seines Vaters aus beobachtete. Sollte die Versammlung dafür stimmen, Octha übers Meer zu folgen, schlachteten oder verkauften sie die Rinder, und niemand würde mehr Weideland brauchen.
    Der Gedanke rief ein unruhiges Prickeln in Oescs Bauch hervor. Er wusste, dass es andere Länder gab, denn er hatte die Lieder gehört, welche die fahrenden Sänger und Spielmänner sangen, doch Eadguths Halle war seit jeher der Mittelpunkt seiner Welt gewesen.
    Die meisten Myrginge hatten sich eingefunden. Frauen und Kinder bildeten einen großen Ring um die Stammesfürsten und Familienoberhäupter. Oesc sah sich nach Haedwig um, dann fiel ihm ein, dass die Weise ihm gesagt hatte, sie brauche der Versammlung nicht beizuwohnen. Sie hatte das Ereignis bereits gesehen, als sie die Runen warf.
    Warum hat sie Eadguth dann nicht davon erzählt und erspart uns allen die Mühe, eine Entscheidung zu treffen?, fragte er sich. Aber wie die Weisfrau ihm schon des Öfteren erklärt hatte, mochte man wohl vorhersagen, dass die Sonne aufgehen würde, trotzdem musste man warten, bis es tatsächlich geschah.
    Für den König war unter der Eiche eine Bank aufgestellt worden. Rings um ihn saßen seine Witan, der Rat der Stammesältesten. Das Sonnenlicht flutete durch die jungen Zweige und zeichnete Muster auf sein weißes Haar. Eadguth Gamol nannte man ihn, Eadguth den Alten, denn von allen Königen des Nordens hatte allein Healfdene von Sillende länger geherrscht.
    Auch sein anderer Großvater, Hengest, war alt, kam es dem Knaben in den Sinn. Der aber herrschte über einen Bund von Kriegshorden, wie die Seekönige von Friesland. Eadguth dagegen war durch zahlreiche Ahnen mit dem Thron und diesem Land verbunden.
    Ein Raunen erhob sich in der Menge, als Geflaf vortrat, der Anführer der Hauskarle des Königs. Er hob ein großes, silbergefasstes Horn an die Lippen und blies. Als der Widerhall erstarb, verstummte es ringsum.
    »Hört, ihr hier versammelten Häuptlinge und Leute der Myrginge. Ein Fremder, Octha, Sohn des Hengest, hat sich bei uns eingefunden. Die Witan haben euch zusammengerufen, um seinen Worten zu lauschen und Bedacht zu schenken.«
    »Er ist ein Spross königlichen Blutes der Angeln und somit unser Feind!«, rief das Oberhaupt einer der älteren Sippen der Myrginge.
    »Er entstammt nicht der Verwandtschaft Offas, des Königsmörders, sondern einer niedrigeren Linie, und er hat nie die Waffen gegen uns erhoben«, erklang die Antwort.
    »Unsere Verwandten dienen in der Kriegshorde seines Vaters«, erklärte der Anführer der Juten, die sich bei den Myrgingen niedergelassen und nach den Kriegen gegen die Angeln verlassene Gehöfte übernommen hatten. »Lasst uns hören, was er zu sagen hat.«
    Eine Weile dauerte der Tumult noch an, bald aber stellte sich heraus, dass die Stimmung der Versammlung zu Octhas Gunsten stand.
    Als er mit Oesc an der Seite vortrat, erhob sich abermals Gemurmel. Mittlerweile hatte natürlich jeder das Gerücht gehört, der geheimnisumwitterte Vater des Sohnes der Herrin sei aufgetaucht. Oesc

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